Gegen den Strom

Einen interessanten Artikel über Gruppendruck, Mitläufer und kollektive Glaubenssysteme habe ich neulich gelesen.*
Darin wird von verschiedenen Versuchen berichtet, in denen gezeigt wird, wie stark wir Menschen uns vom Urteil der Mehrheit beeinflussen lassen. Ich erzähle hier nur eines dieser Experimente.

52 Personen sollten drei verschiedene Weinproben beurteilen. In Wirklichkeit waren alle drei gleich, nur der Probe C wurde Essig beigemischt, sodass sie ungeniessbar wurde.
Wenn die Testpersonen die Weine für sich allein degustierten, erkannten sie problemlos C als schlecht.
Man liess dann die Teilnehmer den Wein zusammen mit einer Gruppe von angeblichen Weinexperten degustieren, die absichtlich die Probe B als ungeniessbar nannten. Unter diesem Gruppendruck liess sich mehr als jeder zweite Teilnehmer dazu hinreissen, ebenfalls die Probe B als schlecht zu bezeichnen.
Schlimmer noch: Ausgerechnet diese Personen hackten nachher bei der Gruppendiskussion am heftigsten auf der Unfähigkeit derjenigen herum, die – richtigerweise – den Wein C als schlecht beurteilt hatten. Das lässt sich damit erklären, dass sich diejenigen, die ihre Meinung geändert haben, unsicher fühlen und dies dadurch zu überspielen versuchen, indem sie ihre Überzeugung fanatischer vertreten und andere niedermachen.

Beträfe diese Situation, dass wir uns dem Urteil der Mehrheit angleichen, nur harmlose Weindegustationen, so wäre das ja nicht weiter tragisch. Dieses Phänomen tritt jedoch im alltäglichen Leben öfter auf, als wir annehmen, und zwar mit weitreichenden Konsequenzen. Wenn der Lehrer in der Schule etwas erklärt hat und daraufhin fragt, ob es Fragen dazu gebe, streckt meistens keiner auf. Obwohl viele den Stoff nicht begriffen haben, schliesst jeder daraus, er sei der einzige, der nichts verstanden hat und hält sich für dumm und unfähig.
Das Gleiche geschieht mit Glaubenssystemen, die scheinbar von der Mehrheit akzeptiert werden, weil sich doch niemand dagegen auflehnt: von einem ungerechten Chef am Arbeitsplatz bis hin zu religiösem Fundamentalismus. Gewisse politische Kampagnen verdanken ihren Erfolg nicht zuletzt den „lauten“, vielleicht prominenten Stimmen der einen Seite, die Mitläufer anziehen – und zugleich dem Schweigen der Mehrheit.

Es ist nicht leicht, diesem Gruppendruck zu entkommen; gemäss Studien haben weder Bildung, Beruf, Alter, Einkommen noch andere Paramter Einfluss darauf.
Nur Menschen, die ein starkes eigenes Glaubenssystem haben, wiederstehen der „falschen Wahrheit der Mehrheit“.

Deshalb ist es so wichtig, dass Selbstliebe und Selbstwertgefühl in uns stark und lebendig sind. Lassen wir uns nie in unserer Überzeugung beirren, wenn wir etwas für richtig oder für falsch halten! Und wenn alle anderen das Gegenteil behaupten: Haben wir den Mut, gegen den Strom zu schwimmen!
Auch wenn wir einmal einen sogenannten Fehler machen, weil wir nicht auf die anderen, sondern nur auf uns selbst gehört haben, ist das überhaupt nicht schlimm. Abgesehen davon, dass wir daraus lernen, wiegt die Tatsache, dass wir uns selbst vertraut haben, uns selbst treu geblieben sind, jeden „Fehler“ auf!

* Artikel: Betonkopf auf dem Wendehals von Rolf Degen, erschienen in Bild der Wissenschaft 4/2011.

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