Im Internet, vor allem in den sozialen Medien, kursieren weise Sprüche zum Thema Selbstliebe zu Tausenden und werden millionenfach weiterverbreitet. Sinnvoll und nützlich sind sie meistens nicht, sie hören sich nur beim oberflächlichen Lesen gut an. Hier zwei Beispiele, die mir neulich begegnet sind:
„Glück bedeutet nicht, alles zu haben, was man will, sondern die Menschen zu haben, die man braucht.“
„Nichts und niemand ist es wert, dass du dich selbst kaputt machst. Sag öfter mal Nein und nimm dir Zeit. Ganz für dich allein.“
Die vielen „likes“ und positiven Kommentare in den sozialen Medien zu solchen Sprüchen liessen vermuten, dass die Zustimmung sehr gross ist; allerdings glaube ich, dass nur diejenigen reagieren, die zustimmen, die anderen melden sich nicht. Und ich gebe zu, ich schreibe auch nur äusserst selten dagegen – sonst wäre ich bald den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt.
Für den ersten der oben erwähnten Sprüche will ich es an dieser Stelle tun, um aufzuzeigen, wie oberflächlich solche „Lebensweisheiten“ oft daherkommen, ja geradezu falsch und deshalb sogar schädlich sind. „Die Menschen haben, die man braucht“ – braucht? Ist es denn gut, jemanden zu brauchen? Bedeutet dies nicht Abhängigkeit von diesem Menschen? Doch! Und Abhängigkeit von anderen steht immer Widerspruch zur Selbstliebe.
Betrachtet man es genauer, sind solche „Weisheiten“ ohnehin nutzlos.
Es gibt nämlich drei wesentliche Arten, wie wir sie bewerten und aufnehmen:
1. Unsere Selbstliebe ist bereits stark, wir stimmen dem Spruch zu, ohne weiter darüber nachzudenken; in diesem Fall nützt er uns also nichts, da wir bereits danach leben. Er schadet uns auch nicht, er ist einfach überflüssig.
2. Oder unsere Selbstliebe ist zwar nicht stark genug, aber wir wissen eigentlich, dass wir genau das, was der Spruch vorschlägt, an uns ändern müssten, und stimmen ebenfalls zu (ohne die Aussage einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen). Doch wie wir es konkret machen sollen, wird uns nicht gesagt, es bleibt in diesem Sinne beim „Sprüche klopfen“ und nützt uns nichts für die Stärkung unserer Selbstliebe. Haben wir solche Sprüche denn nicht schon zur Genüge gesagt bekommen? „Du musst halt Nein sagen, wenn du etwas nicht willst.“ „Lass dich nicht immer benutzen!“ „Steh zu dir selbst!“
Ich gebe zu, dass ich auf meinen Websites und in meinen Büchern zuweilen auch „weise“ Sprüche, eigene und zitierte, verwende. Doch ich lasse sie nicht unkommentiert stehen, ich bemühe mich jeweils zu erläutern, wie wir sie in unserem Alltag konkret umsetzen können, um unsere mangelnde oder schwache Selbstliebe und Urvertrauen aufzubauen und zu stärken. Ich bemühe mich – ich will nicht behaupten, dass es mir immer gelingt.
3. Unsere Selbstliebe ist schwach und der Spruch beweist uns einmal mehr, wie unvollkommen wir sind, dass wir auch hier versagen, während andere (die Sprücheschreiber) all das perfekt können. Denn die Menschen, die wir zu brauchen meinen, haben wir nicht, sie lieben uns vermeintlich nicht. Und wir machen uns selbst kaputt, mit Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen, Versagensempfinden. Und Nein sagen können wir auch nicht! Zudem: „Nimm dir Zeit für dich allein“ – aber ich bin ja schon allein, ich fühle mich einsam, ich will doch nichts lieber, als Menschen um mich zu haben, die mich wertschätzen, doch ich habe keine.
Diese Sprüche, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, wirken also kontraproduktiv, sie schwächen unser Selbstwertgefühl noch mehr und machen uns noch unglücklicher; sie treiben die Spirale versagen – Selbstvorwürfe – schwaches Selbstwertgefühl – erst recht versagen – noch mehr Selbstvorwürfe – noch schwächeres Selbstwertgefühl an.
Darum: Betrachtet die „Weisheiten“, die ihr hier und dort lest, kritisch, denkt darüber nach, ob sie sich nicht nur schön anhören, sondern auch wahr sind, und nützlich. Und seid euch vor allem bewusst: Sprüche machen ist einfach, aber auch diejenigen, die ach so weise scheinen, leben oft nicht nach ihrer eigenen Weisheit (ich bin da manchmal auch keine Ausnahme!). Wir sind alles nur schwache Menschen auf dem Weg zur Vollkommenheit.
Ich will allerdings noch hinzufügen: Es gibt auch viele schöne, tiefsinnige, förderliche Sprüche und Zitate 🙂
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Liebe Karin, ich gebe Dir recht in der Einschätzung dieser Flut von „schönen oder weisen Sprüchen“. Ich habe mir bei manchen auch schon gedacht, ob dieser von Herzen kommt oder nur irgendwo gefunden worden ist … Dabei bin ich dann schon wieder beim Bewerten! Weißt Du, was ich als wunderbar empfinde, dass es die schönen Zu-Fälle gibt. Ich brauche Dir ja nicht zu sagen, was der Unterschied ist zu den so genannten Zufällen. Diese Zu-Fälle bergen für mich in sich die Chance, dass jeder Mensch das bekommt, was er gerade braucht. Vielleicht finden Menschen einen Spruch und er wirkt tiefer oder er fühlt sich einfach nur wohl dabei, freut sich und schenkt es weiter … Ich freue mich, dass ich Dich und Deine Seite gefunden habe!
Da gebe ich dir recht, liebe Michèle Yasmine, dass jeder jederzeit bekommt, was er gerade braucht.
Ich wünschte mir nur, dass diejenigen, die weise Sprüche veröffentlichen, sie etwas ausführlicher kommentieren, und eben nicht nur – wie du auch vermutest – etwas Gefundenes weitergeben. Zum Teil, behaupte ich, ohne es wirklich verstanden zu haben, sonst würden nicht auch Sprüche veröffentlicht, die man schon bei kurzem Nachdenken als Unwahrheit erkennt.
Aber wie schon in meinem Beitrag geschrieben: Es gibt auch wunderbare Weisheiten im Netz!
Herzlich,
Karin