Was Frauen (und Männer) sich antun

„Ich hätte nie geglaubt, dass Karl mich schlagen könnte. Ich hätte auch nie geglaubt, dass der Ätna nochmal ausbricht. Ich hätte nie geglaubt, dass mir so was passieren könnte. Ich hätte nie geglaubt, dass jemand auf den Papst schiesst. Ich glaubte es selbst dann noch nicht, als ich mein Blut schmeckte.
Es gab keinen Anlass. Wir waren auf einer Party gewesen. Ich hatte jede Menge Spass, und als wir draussen auf der Strasse waren, langte er mir eine. Ich hab nicht mal gesehen, wie er ausholte, nur dass plötzlich seine Faust in meinem Gesicht war.
Der Schmerz spielt keine Rolle. Im Moment, da er dich schlägt, vergisst du, es schmerzhaft zu finden. Ich stand da, wir standen da, ich neben mir, betrachtete den Schlamassel und versuchte zu ergründen, was vorgefallen war.
Ein Irrtum, das war schon mal klar. Dieses Vorkommnis war für jemand anderen gedacht, für ein anderes Paar, nicht für uns. Ich konnte nicht begreifen, dass eine dieser Hände, dass dieser Mann mich geschlagen hatte, das gehörte nicht in meine Ehe.
Zu Anfang verdrängst du schnell. Ich steckte diesen Schlag ein und leugnete ihn sofort, ein Ausrutscher, ach was, ein schlimmer Traum. Er würde so was niemals tun, das ist überhaupt nicht passiert. Lass uns nach Hause gehen und so tun, als sei nichts gewesen.
Am nächsten Tag entschuldigte er sich. Er grämte sich so sehr, dass er mir schon wieder leid tat. Das machen sie immer, die Schläger: Sie entschuldigen sich, um ihre eigene Welt in Ordnung zu bringen, nicht die des Opfers.
Entweder geht man nach dem ersten Schlag – oder nie. Aber den Rat kann dir keiner geben, weil du dich schämst und schweigst.
[…]
Du denkst, der Ätna ist einmal ausgebrochen, jetzt wird er Ruhe geben. Auf den Papst schiesst keiner ein zweites Mal. Dein Mann wird eines Tages voller Zerknirschung daran denken, wie er ein einziges Mal im Leben die Kontrolle verloren hat.
So stellst du dir das vor und versuchst, es ihm recht zu machen. Bis die zweite Überraschung ranfliegt, mitten in die Fresse.
[…]
Das Schlimme ist, dass du irgendwann den Horizont verlierst. Er prügelt, aber er bringt dich dazu zu glauben, er sei im Recht und es sei deine Schuld, dass es eine Scheissehe ist. Er sagt, du musst dich ändern, dann wird alles wieder gut.
Wenn ich glaubte, erkannt zu haben, was Karl störte, stellte ich es ab. Ich traf mich nicht mehr mit den Freunden, die er hasste, ging kaum noch alleine weg, äusserte bestimmte Meinungen so lange nicht mehr, bis ich selber davon überzeugt war, sie seien falsch.
Irgendwann hatte er mich so weit, dass ich es nicht wagte, im Restaurant zu bestellen, aus Angst der Kellner könnte mich anlächeln. Ich schminkte mich nicht mehr, ich lief in Sack und Asche durch die Gegend.
[…]
Alles bist du bereit zu tun oder zu lassen, je nachdem wie er es will, um nicht öffentlich bekennen zu müssen, wie dein Leben aussieht.
Ich dachte, ich kann ihn ändern, wenn ich mich selber ändere. Ich machte mich für alles verantwortlich und fühlte mich für alles schuldig.
Wenn er Ärger im Job hatte, fühlte ich mich schuldig.
Wenn er vergass, mir zum Geburtstag zu gratulieren, fühlte ich mich schuldig.
Wenn er mich anschrie, ich triebe es hinter seinem Rücken mit Türken und Farbigen, fühlte ich mich schuldig.
Wenn ich das Rohypnol entdeckte, das er angeblich nicht mehr nahm, fühlte ich mich schuldig.
Er hatte es als Kind nicht leicht gehabt: Ich fühlte mich schuldig.
Wegen Eva musste Adam aus dem Paradies: Ich fühlte mich schuldig.
Schuldig und wert, bestraft zu werden.
Ich schrumpfte auf einen Punkt.“

Diese treffende Schilderung einer Frau stammt aus dem Roman „Die dunkle Seite“ von Frank Schätzing.

Prügelnde Männer gibt es, auch wenn sie ganz bestimmt nicht in der Mehrheit sind.
Menschen, Männer und Frauen, die uns stets glauben machen wollen, wir seien Schuld an allem, was ihnen zustösst oder nicht passt, gibt es schon wesentlich mehr.
Und noch mehr Menschen, Männer wie Frauen, gibt es, die sich selber stets für alles verantwortlich und schuldig fühlen.
Der Chef hat schlechte Laune? – Bestimmt habe ich etwas falsch gemacht.
Die Verkäuferin ist unfreundlich? – Sie mag mich nicht, weil ich so dick bin.
Die Bedienung im Restaurant übersieht mich? – Weil ich so unbedeutend und unscheinbar bin.

Nein! Wenn der Chef schlechte Laune hat, die Verkäuferin unfreundlich ist, die Bedienung im Restaurant unaufmerksam: Was auch immer der Grund dafür ist, mit mir hat es nichts zu tun.
Selbst dann, wenn ich in den Augen dieser Menschen die Ursache bin, so brauche ich mich nicht schuldig zu fühlen. Sie messen nämlich immer mit ihren eigenen Massstäben, bewerten nach ihren eigenen Kriterien – das ist jedoch nicht die absolute Wahrheit!

Sich selbst lieben bedeutet auch: Sich niemals etwas vorwerfen.
Aufrichtig hinschauen: ja. Erkennen, dass wir etwas nicht so gut gemacht haben: ja. Uns vornehmen, es das nächste Mal besser zu machen: ja.
Aber immer ohne Selbstvorwürfe und Schuldgefühle.

Denkt daran, dass ihr niemals die Verantwortung trägt für mündige, erwachsene Menschen. Auch wenn sie euch vorwerfen: „Wegen dir geht es mir schlecht.“ – „Weil du das und das getan hast, bin ich ins Elend gestürzt.“

Nehmt euch jetzt gleich vor: Ich fühle mich nie wieder schuldig.

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2 Gedanken zu “Was Frauen (und Männer) sich antun

  1. Ich bin gegangen, als er mit einem Schuh nach mir geworfen hat, nachdem er am vorherigen Tag vorher meine Handtasche auf dem Boden ausgeschüttet und mein Handy wie ein Besessener kontrolliert hatte. Dies geschah zum ersten Mal nach 3 Jahren, in denen sich immer mehr verbale Gewalt seinerseits aufgebaut hatte, er erst seine Aggression an Dingen ausgelassen hatte und ich mich immer weiter zum Opfer degradierte wie im Auszug aus oben beschriebenen Buch beschrieben. Je mehr ich zum Opfer wurde, umso mehr wurde er zum Täter.
    Der nächste Schritt wäre die körperliche Gewalt gewesen…. und es passiert immer wieder und wird immer schlimmer.
    Es ist nicht allein damit getan, sich nicht mehr schuldig zu fühlen, aber es ist ein winziger Schritt in die erste richtige Richtung. Ich empfehle jeder oder jedem, der körperliche und/ oder verbale Gewalt erlebt im häuslichen Bereich sich heimlich bei seinem Hausarzt nach einem Psychotherapeuten in seiner Nähe zu erkundigen und dort Hilfe zu suchen!
    Sich nicht mehr schuldig zu fühlen, ist ein ganz langwieriger Prozess, denn es gibt noch viele andere Faktoren, die ein bestimmtes Muster bilden, das sich über Jahre und teilweise sogar aus der Kindheit aufgebaut hat bei einem selbst.
    Dieses Muster gilt es zu durchbrechen und zu lernen, sich selbst zu lieben.
    Wer jedwede Gewalt toleriert im häuslichen Bereich, der hat seine Selbstliebe verloren. Und der ‚Täter‘ ist für sein Handeln verantwortlich und die Konsequenzen. Niemand anders.
    P.S. Im Zuge meiner Arbeit an mir selbst, bin ich unter anderem auf diese Webseite von Karin gestoßen, die einen wichtigen Beitrag geliefert hat zu meiner seelischen Gesundung. Auch habe ich mir professionelle Hilfe gesucht. Heute bin ich stolz, dass ich mein selbstzerstörerisches Muster durchbrochen habe und selbstbewusst in die Zukunft schaue und jeder Form von Erniedrigung Einhalt gebiete.

    • Danke, liebe Steffi, für deinen wertvollen Beitrag. Ich finde es wunderbar, wie du sehr früh schon in diesem Teufelskreis den Mut gefunden hast, daraus auszubrechen. Darauf darfst du wirklich stolz sein! Ich hoffe, deine Worte werden auch anderen Mut machen, die in einer ähnlichen Situation sind.

      Dir wünsche ich weiterhin spannende Schritte auf dem Lebensweg.
      Karin

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