Urvertrauen schenkt Selbstvertrauen

Vor ein paar Tagen war ich mit Xenia*, einer jungen Frau Ende 20, zum Kaffee verabredet.

Sie kam vor zwölf Jahren zu mir, nachdem sie die Diagnose „Multiple Sklerose“ (MS) bekommen hatte; seither hatte ich immer wieder Kontakt mit ihr.
Damals entschloss sie sich, auf jede schulmedizinische Therapie zu verzichten, hingegen liess sie sich von verschiedenen alternativen Therapeuten behandeln. Ich bewunderte die innere Stärke dieses Teenagers, wie sie ihr Schicksal annahm und immer wieder mit Urvertrauen sagte: „Alles hat einen Sinn. Es kommt, wie es kommt, und so wie es kommt, ist es gut.“ Niemand ausser dem engsten Familenkreis wusste von ihrer Krankheit, sie wollte kein Mitleid, sondern als ganz „normaler“ Mensch leben.
Doch immer wieder erlitt sie einen MS-Schub, sie ertrug ihn mit Gleichmut; der letzte war allerdings so stark und die Schwäche in den Beinen heilte nicht wie bei früheren Schüben vollständig aus, sodass sie einer konventionellen Therapie zustimmte. Und auch darin trägt sie ihr Urvertrauen: Im Augenblick, in dem sie die Medikamente akzeptierte, vertrug sie sie auch gut, während andere Patienten über erhebliche Nebenwirkungen klagen.

Bei unserem Kaffee erzählte sie mir von der MS-Selbsthilfegruppe, der sie sich nun angeschlossen hat. Die meisten Teilnehmenden sind junge Frauen – und die meisten werden mit diesem Schicksalsschlag nicht fertig, nehmen Antidepressiva, haben ihre Arbeit aufgegeben, obwohl sie noch lange nicht invalid sind, sehen keinen Sinn mehr im Leben…
Wie anders doch Xenia! Sie arbeitet 100 %, unternimmt Reisen, geniesst das Leben – hat aber auch gelernt, ihre Kräfte einzuteilen und nicht übermässig zu beanspruchen. „Wenn etwas nicht geht, dann geht es halt nicht“, sagte sie gelassen.
Sie macht sich keine Gedanken über ihre Zukunft, sie meinte: „Im Moment geht es mir gut. Wenn sich das ändert, ist es immer noch früh genug, mich damit auseinanderzusetzen. Es kommt ja eh, wie es kommen muss!“
Es war so erfrischend für mich, ein paar Stunden mit dieser fröhlichen, lebensbejahenden jungen Frau zu verbringen! Und ich stellte im Gespräch und aus ihrem Verhalten fest, dass nicht nur ihr Urvertrauen stark ist, sondern dass sie sich auch zu einem selbstbewussten Menschen entwickelt hat, der sich selbst wirklich gerne hat und akzeptiert, wie sie ist.

Dieses Selbstvertrauen gründet wohl auf ihrem Urvertrauen. Sind wir uns nämlich sicher, dass eine höhere Macht, das Schicksal, das Leben (oder wie man es nennen will) uns trägt und alles so für uns gestaltet, wie es zu unserem Besten ist (zum Besten für unsere Seele, nicht für unser Ego!) – oder akzeptieren wir einfach, dass wir nichts wirklich im Griff haben, und sind bereit anzunehmen, was auf uns zukommt –, so verschwinden auch unser Bestreben, es den Mitmenschen immer recht machen zu wollen, und unsere Abhängigkeit von ihrer Anerkennung und ihrem Urteil.
Erst dann gelingt es uns, wir selbst zu sein, zu unseren Wünschen und Bedürfnissen zu stehen, ohne die ständige Angst, andere zu belästigen, zu verletzen, zurückzuweisen – und vor allem ohne die Angst, von ihnen verletzt oder zurückgewiesen zu werden.

* Name aus Diskretionsgründen geändert.

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2 Gedanken zu “Urvertrauen schenkt Selbstvertrauen

  1. Hallo Karin

    Ein echt mutiges und tapferes Mädchen die xenia ,Hut ab .
    Ich finde solche Schicksalsschläge sind mit Abstand die größten Prüfungen die ein Mensch zu bestehen hat .

    Ich will nicht behaupten , dass ich ein einschneidendes Erlebnis in mein Leben brauche ,jedoch haben meine geistige Führer sehr viel Geduld mit mir Trottel. Montags ist alles klar , Dienstags wieder alles vergessen . Ich übe mich tagelang in Gleichmut , Verzicht und Disziplin . Ich tue alles was zu tun ist gern und ohne Emotion . Dann plötzlich stellt sich dieses Gefühl ein . Eine innere Ruhe und Zufriedenheit . Ich gehe so gechillt mit dem Flow durch den Tag . Bin aber keineswegs faul . Alles wird erledigt. Und dann passiert es . Ich lasse mich hinreißen bekomme Höhenflüge ,das Ego ruft auf, jetzt kannst du es wieder krachen lassen dir gehts gut ,komm rauch eine ,eine ist nicht schlimm ,geh raus mach Party …. Ja und dann mach ich das , und bin wieder bei null . Ich lasse mich zu schnell ablenken ,falle schnell in alte Gewohnheiten . Der Schalter ist bei mir nur auf halb umgelegt . Bleibe ich aber dran passiert genau das was du in deinem Buch schreibst . Viele liebe Grüße .

  2. Lieber Vangelis

    Was du beschreibst, ist menschlich. Wir sind alle keine Buddhas und schaffen es nicht, andauernd in unserer Seele zu leben. Das Ego versucht es immer wieder, mit immer neuen Tricks, seine Wünsche durchzusetzen, und wir fallen immer wieder darauf herein. Das geht auch mir so.

    Sei nicht zu hart zu dir selbst, verzeih dir solche „Ausrutscher“, sie sind auch nur Schritte, Erfahrungen auf dem Weg. Du bist danach nicht „bei Null“, wie du sagst, es war nur ein kleiner Umweg und du findest immer wieder auf den rechten Weg, zu deinem wahren Selbst zurück.

    Herzlichst,
    Karin

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