Verletzende Lügen

Gleich vorneweg: Auf die Frage, ob es berechtigte Lügen, also Gründe zu lügen, gibt oder nicht, gehe ich heute nicht ein. Und dass wir nicht immer unaufgefordert alles sagen müssen, versteht sich von selbst.

Warum wir grundsätzlich nicht lügen sollten, vor allem im Hinblick auf unser Selbstwertgefühl, habe ich auf dieser Website verschiedentlich dargelegt, siehe hier und hier.

Lügen stehen zudem im Widerspruch zum Urvertrauen, weil wir uns anmassen, die Wahrheit nach unserem Gutdünken zu verbiegen und nicht darauf vertrauen, dass egal wie wir uns verhalten – lügen oder die Wahrheit sagen – stets alles so kommt, wie es für alle Beteiligten gut und richtig ist.

Heute ist jedoch ein verwandter Aspekt mein Thema. Manchmal nehmen wir für uns in Anspruch, aus edlen Motiven zu lügen*, beispielsweise um jemandem mit der Wahrheit nicht weh zu tun. Manchmal auch aus einem in unseren Augen berechtigten Selbstschutz. Welche Gründe uns auch zu einer Lüge bewegen: Überlegen wir uns dabei je, was der Angelogene dabei empfindet?
Lüge/Wahrheit ist einer jener typischen Bereiche, in denen wir für uns selbst etwas erwarten, was wir anderen nicht zugestehen. Wir selbst wollen nicht angelogen werden, nicht wahr? Warum vergessen wir dann stets, dass andere das ebenso wenig wollen?

Bitte denkt einen Augenblick nach und holt euch eine Begebenheit in eure Erinnerung, als ein Mensch, der euch etwas bedeutet, euch einmal angelogen hat. Wie habt ihr euch dabei gefühlt?
Genau. Verletzt, enttäuscht, gedemütigt, vielleicht auch wütend… Nicht gut, jedenfalls. Ebenso wie ich mich neulich gefühlt habe.

Kürzlich hat ein Mensch, den ich mag und achte und mit dem ich eine aufrichtige Beziehung pflege und darauf Wert lege, mich angelogen.
Meine erste Empfindung dabei war Verletzung. Ich fühlte mich verletzt, dass dieser Mensch mir nicht zutraute, mit der Wahrheit umgehen, sie ertragen zu können.
Meine zweite Empfindung war Enttäuschung. Ich war enttäuscht, dass ein Mensch, von dem ich viel halte, lügt, weil er einen allfälligen Konflikt mit mir scheut oder aus Angst vor meiner Reaktion oder aus welchen Ängsten/Befürchtungen auch immer.
Und um diese beiden Empfindungen lag noch mein Unverständnis über diese in meinen Augen völlig überflüssige Lüge.

Warum tun wir das denn unseren Mitmenschen an? Das müssen wir uns überlegen, jedes Mal, wenn wir meinen, jemanden, den wir lieb haben, anlügen zu müssen. Dann sollte uns die Wahrheit leichter über die Lippen kommen. Und besonders wachsam müssen wir immer genau dann sein, wenn wir merken, dass wir im Begriff sind zu lügen und uns augenblicklich dieses unbestimmte ungute Gefühl überkommt, etwas wie ein schlechtes Gewissen, die innere Stimme, die uns davon abhalten will.

Denkt ja nicht, eine Lüge, die nicht „offiziell“ enttarnt wird, tue nicht weh! Die meisten Menschen haben sehr feine Antennen für Lügen. Gemäss der Wissenschaft verändert sich bei einer Lüge die Tonlage des Sprechenden, auch gewisse Gesichtszüge verändern sich, es werden bestimmte Formulierungen gewählt – alles Verhaltensweisen, die uns eine Lüge erkennen lassen.
Darüber hinaus erzeugt eine Lüge jedoch einfach eine Dissonanz, eine Disharmonie, eine ungute Schwingung, oder wie man es nennen will. Der Belogene weiss möglicherweise nicht, dass was er gerade zu hören bekommt, eine Lüge ist, aber er spürt, dass etwas nicht stimmt.
Den wenigstens Menschen entgeht diese „falsche“ Schwingung. Weil wir dabei jedoch oft nicht wissen, was wir da genau spüren, sprechen wir den Lügenden nicht unmittelbar darauf an. Doch bei einer späteren Gelegenheit, vielleicht bei einer ähnlichen Aussage oder einer Aussage, die in uns wiederum diese bestimmte Schwingung auslöst, erkennen wir dann plötzlich die Lüge; es ist nicht einmal nötig, dass der Lügende sich verplappert oder sich sonstwie verrät.
Das ist dann der Moment, in dem die Lüge uns verletzt, enttäuscht, uns schlecht fühlen lässt.

Wie aber sollen wir reagieren, wenn wir merken, dass wir belogen wurden? Emotionen wie Verletzung, Wut, Angst und andere sind schlechte Ratgeber, deshalb sollten wir – wenn möglich – nicht spontan damit herausplatzen, sondern zumindest einmal eine Nacht darüber schlafen und nachdenken.
Ob wir dann den Lügner darauf ansprechen oder nicht, ist in jedem einzelnen Fall zu erwägen, eine allgemein gültige Regel kann es nicht geben. Ich kann in diesem Zusammenhang nur wiederholen, was ich immer wieder sage: Das Leben ist nicht schwarz und weiss, es gibt unendlich viele Grautöne. So ist auch eine Lüge und unsere Reaktion darauf nicht immer nur schwarz oder weiss.

Eines sollten wir auf jeden Fall immer tun, egal wie wir im Übrigen reagieren: Schlussendlich Verständnis haben für die Schwäche unseres Mitmenschen – wir selbst sind ja auch nicht perfekt! – und verzeihen.

*Nur kurz zur Definition der Lüge: Wir lügen nicht nur, wenn wir etwas Unwahres sagen; Lügen sind auch Teilwahrheiten, absichtliches Verschweigen von Tatsachen, von denen wir wissen, dass wir sie mitteilen sollten, bewusst missverständliche Aussagen usw.

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Die Schlange

Wir sind immer so bemüht darum, andere nicht zu verletzen, und lassen dabei lieber zu, dass wir selbst verletzt werden – anstatt uns abzugrenzen und zu uns selbst zu stehen. Yogananda erzählte dazu einmal eine nette Geschichte.

Auf einem Felsen, ausserhalb eines Dorfes, lebte eine Kobra, die schon viele Menschen durch ihren Biss getötet hatte. Deshalb baten die Dorfältesten einen heiligen Mann, etwas dagegen zu unternehmen.
Er ging zu der Schlange und sagte zu ihr: „Hör auf, die Leute meines Dorfes anzugreifen.“ Berührt durch die Kraft der spirituellen Liebe versprach sie es ihm.
Als der Heilige nach einer langen Wallfahrt zurückkehrte und am Felsen vorbeikam, fand er die Kobra verwundet und blutend da liegen. „Was ist mit dir geschehen?“, fragte er erstaunt.
Mit schwacher Stimme antwortete sie: „Die Kinder des Dorfes haben gemerkt, dass ich seit deinem Besuch harmlos bin. Jetzt werfen sie mit Steinen nach mir, sooft sie mich irgendwo entdecken.“
Der Heilige legte seine Hand auf die Schlange und heilte ihre Wunden. Dann lächelte er verschmitzt und sagte: „Ich habe dir auferlegt, nicht zu beissen – aber warum hast du nicht gezischt?“

Yogananda kommentierte die Geschichte wie folgt:
„Lass nicht zu, dass andere dich verletzen; du sollst kein Gift gegen sie sprühen, aber halte sie von dir fern, indem du klar und bestimmt mit ihnen sprichst.“

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Der Schmerz, verlassen zu werden

Immer wieder erfahren wir in unserem Leben, dass ein nahestehender Mensch uns verlässt: Im Kleinkindesalter ist es die Mutter oder eine andere Bezugs­person, die sich aus unserer erfassbaren Umgebung entfernt, wenn auch nur vorüber­gehend; später ein lieber Schulkamerad, der wegzieht, oder die Freundin, die sich abwendet zu einer anderen „besten Freundin“; als Teenager erfahren wir das Zerbrechen der ersten Liebe und als Erwachsene dann die Trennung bei einer langjährigen Beziehung.

Die Gründe für den Schmerz des Verlassenwerdens sind vielschichtig und individuell ausgeprägt; nachfolgend gehe ich den häufigsten auf den Grund:

• Der stete Wandel. Unser Dasein ist geprägt von einem Kommen und Gehen geliebter Menschen, als ob wir selbst wie ein Fixpunkt auf einem belebten Marktplatz stünden, Leute sich eine Zeitlang zu uns gesellten und dann weiter zögen. Erleben wir solches tatsächlich auf einem Marktplatz, sind wir nicht traurig, frustriert, enttäuscht, verletzt oder verbittert über diesen ständigen Wechsel; im wirklichen Leben hingegen fallen uns das Nichtanhaften und das Loslassen extrem schwer, wir akzeptieren den Fluss des Lebens mit seinem steten Wandel nicht, wollen festhalten, was bereits vorbei ist.

• Das Alleinsein und die Veränderung. Meistens mögen wir Menschen Veränderungen nicht: Es ist immer ein Schritt ins Unbekannte, bei dem wir nicht genau wissen, was uns erwartet, und sie fordern von uns äussere und innere Umstellungen und Entwicklungen. Das Ego wehrt sich deshalb dagegen und reagiert mit starken Emotionen wie Wut, Frustration, Niedergeschlagenheit und mehr. Besonders der Wechsel von der Zweisamkeit zum Alleinsein wirft uns, zumindest in der ersten Zeit, auf uns selbst zurück und das kann sich recht unangenehm anfühlen. Je nachdem wie wenig wir in uns zentriert und geborgen sind, befand sich vorher der oder ein wichtiger Bezugspunkt ausserhalb von uns, der uns sozusagen von uns selbst „ablenkte“; nach der Trennung sind wir nur noch auf uns selbst ausgerichtet und es kann einiges aus dem Unbewussten auftauchen, was bisher „stillgelegt war“ und sich jetzt aufdrängt. Diese Auseinandersetzung mit alten Themen kann Leiden verursachen; es beruht zwar nicht direkt auf der eigentlichen Trennung, doch oft unterscheiden wir das nicht und führen alles auf die gegenwärtige Situation zurück, die wir dann umso schmerzhafter empfinden.

• Der Angriff auf das Selbstwertgefühl. Jedes Mal, wenn ein Mensch uns willentlich verlässt, stellen wir uns Fragen wie: „Was habe ich falsch gemacht? Warum zieht er andere mir vor? Bin ich es nicht wert, dass er mit mir zusammen ist? Bin ich langweilig, hässlich, dumm, humorlos…? Was werden meine Familie, Freunde, Kollegen… denken? Was sage ich ihnen?“ und ähnliche. Wenn ein Mensch uns verlässt, beziehen wir das stets auf uns selbst – wir nehmen es „persönlich“; das greift unser Selbstwertgefühl an und tut weh! Doch jede Aussage, Entscheidung und Handlung eines anderen Menschen hat ausschliesslich mit ihm selbst zu tun, sie stammt aus seinem Unbewussten, seiner „Programmierung“ und ist nicht auf mich gerichtet – ich bin nur das Objekt, mit oder an dem es sich abspielt.

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Verzeihen

Können wir jemandem verzeihen, der uns verletzt hat ? Uns schlecht behandelt? Ungerecht zu uns ist?
Nehmen wir als häufig anzutreffendes Beispiel die Eltern: die den Bruder vorziehen; uns wiederholt zu verstehen geben, dass wir nichts wert sind; dass ihnen vieles wichtiger ist als ihr Kind; die uns nichts zutrauen; sich in unser Leben einmischen; uns daran hindern, unseren eigenen Weg zu gehen; uns ihre Hilfe verweigern, wenn wir sie brauchen…

Oft verzeihen wir nicht mit Worten, nicht einmal in unseren Gedanken oder in unserem Herzen. Doch unser Verhalten zeigt das Verzeihen: Wir gehen immer wieder auf sie zu; wir sind für sie da, wenn sie uns brauchen; wir lieben sie „trotzdem“…

Und doch tut uns die Art und Weise, wie sie mit uns umgehen, immer wieder weh – unseren wahren inneren Frieden haben wir also nicht gefunden. Werden wir es je schaffen, ihnen auch in uns drinnen so zu verzeihen, dass wir uns nie wieder verletzt fühlen?
Ja, aber auf einem anderen Weg – denn es geht nicht um das Verzeihen, es geht am Ende nur um unsere Selbstliebe. Wie könnten wir uns verletzt fühlen, an uns zweifeln, an Unrechtem leiden, wenn wir uns selbst bedingungslos lieben, ganz in uns selbst geborgen sind? Das Verhalten anderer Menschen uns gegenüber werden wir zwar nach wie vor nicht billigen, aber es wird uns nicht mehr in unserer Tiefe berühren.

Und vielleicht sollten wir zuallererst uns selbst verzeihen, dass wir noch nicht verzeihen können…

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Ich will ihm nicht wehtun!

Wie oft habe ich auf dieser Website schon geschrieben, dass wir keine Angst haben sollen, jemandem wehzutun? (Natürlich nicht böswillig, sondern einfach weil wir auf uns selbst hören.)

In den letzten Wochen ist mir diese Erfahrung auch wieder einmal nicht erspart geblieben. Und wieder einmal habe ich deutlich gespürt, wie schwer es ist! Umso schwerer, je näher uns jemand steht.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe es nicht geschafft. Ich habe mehrmals geschwiegen, obwohl ich etwas hätte sagen sollen. Ich wollte einen Freund, den ich sehr lieb hatte und der stark an mir hing, nicht verletzen und wurde deshalb mir selbst untreu.
Gott straft sofort, sagt man. Dem stimme ich natürlich nicht zu, es ist niemals eine Strafe, sondern immer eine Lektion in der Lebensschule, damit wir etwas lernen. Jedenfalls ist die Lektion postwendend über mich hereingebrochen!

Hier die Geschichte. Gut zwei Monate lang pflegte ich mit Martin* einen äusserst intensiven Kontakt, mehrere Stunden täglich, sei es per E-Mail oder im persönlichen Gespräch. Allerdings hatte ich von Anfang an gemerkt, dass er auf der alltäglichen Ebene, vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen, ein sehr schwieriger – um nicht zu sagen absolut nicht umgänglicher! – Mensch ist. Ich sah darüber hinweg, akzeptierte seine Eigenheiten und schwieg oft, obwohl mir etwas auf der Zunge lag. Ich betrachtete es als eine herausfordernde Aufgabe für mich, zu lernen, damit umzugehen, mich nicht gekränkt zu fühlen und mich ganz auf seine positiven Seiten zu konzentrieren.
Doch im Grunde genommen war es mir zu viel. Rein zeitlich beanspruchte er mich über das hinaus, was meine Arbeit und meine anderen Verpflichtungen erlaubten; zudem war die Kommunikation über die Massen aufreibend und oft so unbefriedigend für mich, dass ich keine Chance sah, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, und den Kontakt am liebsten schon nach zwei Wochen wieder abgebrochen hätte.
Aber er hing doch so sehr an mir! Er brauchte mich! Und vor allem: Ich wusste, dass ich ihm wehtun würde, wenn ich unsere Beziehung beendete, sehr weh. Das wollte ich nicht, obwohl meine innere Stimme mir deutlich sagte, ich solle es tun, und zwar unverzüglich (die gleiche Geschichte unter diesem Aspekt könnt ihr im unmittelbar nachfolgenden Artikel lesen; mehr zum Aspekt der Verhaltensmuster auf meiner Website Karma-Yoga).
Jedenfalls brachte ich es nicht übers Herz, machte weiter wie bis anhin, mit all den Schwierigkeiten.

Zusammenfassend: Ich habe nicht auf mich gehört, bin mir selbst untreu geworden, habe nicht das gemacht, was ich in meinem Innern als richtig spürte – um jemanden nicht zu verletzen.

Wie gesagt, die Lektion des Lebens kam unverzüglich! Vor einer knappen Woche. An jenem Tag hatten wir schon mehrere E-Mails ausgetauscht, eine angeregte stündige Unterhaltung geführt, alles recht harmonisch und respektvoll.
Kurz vor Feierabend schickte ich ihm noch eine E-Mail, um einen schönen Abend zu wünschen. Seine Antwort, die für gewöhnlich länger und überschwänglich bis leicht pathetisch ausfiel, traf umgehend ein, diesmal drei kurze Zeilen, ohne Gruss, ohne Unterschrift:
„Danke.
Ich liebe dich.
Trotzdem.“

Ich traute zuerst meinen Augen nicht. Dann dachte ich bei mir: „Was ist denn jetzt wieder passiert?“ Allerdings nahm ich das Ganze nicht ernst – eine solche Situation war mir schliesslich nicht neu! – und reagierte nicht.
Es vergingen drei Tage ohne ein Lebenszeichen von ihm. Dann eine E-Mail, fast genau so kurz, aber eindeutig:
„Ich habe vergessen, dir alles Gute für deinen weiteren Lebensweg zu wünschen. Martin“
Das wars also. Was ich mich nicht getraut habe, um ihm nicht wehzutun, ist ihm ganz leicht gefallen!!! Er hat die Beziehung abgebrochen, kalt, kurz und bündig, ohne Begründung.
Welch grosse Lektion in meiner Lebensschule!

Manchmal muss ich eine Erfahrung einfach wieder einmal am eigenen Leib machen, um an meine eigenen Lehrsätze erinnert zu werden!

* Name aus Diskretionsgründen geändert.

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Echte Reue statt Schuldgefühle

Niemand ist fehlerlos. Es lässt sich nicht vermeiden, dass wir – trotz unseres ehrlichen Bemühens – auch einmal jemandem Unrecht tun, etwas antun, ihn verletzen. Danach quälen uns oft Schuldgefühle.
Noch öfter lassen wir uns von anderen Schuldgefühle einreden. Weil wir uns nicht so verhalten haben, wie sie es erwarteten. Weil wir uns erlaubt haben, eine eigene Meinung zu äussern. Weil wir uns getraut haben, eine Bitte oder einen Wunsch abzuschlagen. Weil wir ganz einfach nur wir selbst waren.

Schuldgefühle sind jedoch unnütz! Sie erniedrigen uns und führen dazu, dass wir uns schlecht fühlen und darunter leiden. Auf diese Art bestrafen wir uns selbst für ein tatsächlich oder vermeintlich angetanes Unrecht – und zwar nicht selten über längere Zeit.

Echte Reue hingegen ist durchaus sinnvoll! Wir schauen unser Verhalten mit innerer Ehrlichkeit an. Wenn wir einsehen, tatsächlich etwas falsch gemacht zu haben, bereuen wir es kurz, wirklich nur einen Augenblick lang, versuchen zu erkennen, warum wir in dieser Weise gehandelt haben, und nehmen uns vor, den gleichen Fehler nicht mehr zu machen. Und damit ist es getan!
Das fortgesetzte Hin- und Herwälzen in Gedanken und das Empfinden von Schuldgefühlen nützt weder uns noch demjenigen, dem wir ein Unrecht angetan haben.

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Den Pfeil herausziehen!

Was tun, wenn ich mich durch eine Aussage oder die Verhaltensweise eines Mitmenschen verletzt fühle? Das war Erikas Frage in ihrem Kommentar zu meinem Beitrag „Verletzt werden und verletzen“.

Sich verletzt fühlen, ist eine ganz normale menschliche Eigenschaft, und es besteht absolut kein Grund, sich deswegen Vorwürfe zu machen – selbst wenn wir die theoretische Erkenntnis besitzen, dass wir uns nie verletzt fühlen sollten!
Wenn jemand einen Pfeil auf uns schiesst, der einen unserer wunden Punkte trifft oder mit solcher Bosheit auf uns zielte, kann das weh tun. Nochmals in aller Deutlichkeit: Es ist normal, diesen Schmerz zu fühlen, wenn ein Pfeil trifft, das passiert jedem Menschen.
Wir können andere nicht daran hindern, willentlich oder unabsichtlich mit Pfeilen auf uns zu zielen – manchmal schiessen sie daneben, manchmal treffen sie aber. Entscheidend ist, wie wir uns verhalten, nachdem wir verletzt wurden.

1. Den Pfeil herausziehen. Ich mache mir bewusst, dass die Aussage oder die Verhaltensweise, die mich verletzt hat, nicht zu mir gehört, sondern von aussen in mich eingetreten ist, sie hat also nichts mit mir zu tun, ich lehne sie kategorisch ab, und ich werfe sie bildlich aus mir hinaus – ich kann das beispielsweise in einer kurzen Imagination mit geschlossenen (oder sogar mit offenen) Augen tun, indem ich mir vorstelle, wie ich diesen Pfeil aus meinem Körper herausreisse und wegwerfe.
2. Die Wunde reinigen und desinfizieren. Ich wische das Gift, das in mich eindringen wollte, weg, indem ich die verletzende Aussage „verwässere“ – je nach Situation kann ich mir beispielsweise sagen, dass die Person X völlig unrecht hat, nur aus Dummheit, Niedertracht, Mangel an Selbstwertgefühl so etwas gesagt hat; oder ich versuche, mir ihr Verhalten zu erklären (nicht zu entschuldigen!), aus ihrer persönlichen Situation, in der sie gerade steckt, wie Frustration, Wut, Enttäuschung und mehr. Es ist schwierig, dieses „Desinfizieren der Wunde“ theoretisch zu erläutern, denn in jeder Situation sind es andere Mittel, die helfen. Wichtig ist jedenfalls, mich nie selbst schuldig zu fühlen oder anzunehmen, ich hätte es nicht anders verdient – ich wurde angeschossen, dafür kann ich nichts, ich bin Opfer, nicht Täter!
3. Die Wunde verbinden. Ich lege etwas Schönes, Gutes, Angenehmes über die Wunde, indem ich mir bewusst andere Situationen in Erinnerung rufe, in denen ein Mensch (vielleicht sogar der gleiche, der mich jetzt verletzt hat) mir liebe Worte oder Taten geschenkt hat; oder Situationen, in denen ich mich gut gefühlt habe, weil ich erfolgreich war, etwas besonders gut meisterte, von anderen gelobt oder bewundert wurde. Jedenfalls Momente, in denen ich mich selbst liebte und mich wertvoll fühlte.

Und sollte die Wunde danach immer noch weh tun – dann nehme ich diesen Schmerz an und halte ihn aus. Siehe dazu meinen Beitrag über den Umgang mit dem Leiden.

Bei dieser Gelegenheit darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch das Sich-verletzt-fühlen möglicherweise nur ein altes Verhaltensmuster sein könnte: Ich habe die Erkenntnis, dass ich mich nie verletzt fühlen sollte, wohl verinnerlicht, sie ist in meiner Seele gut verankert – aber in meinem Unbewussten steckt das alte Muster noch fest und bestimmt mein Verhalten. Ohne dass ich es willentlich beeinflussen kann, steigt diese Empfindung der Verletzung in mir hoch, sobald eine entsprechende Situation eintritt, wie eine automatische Reaktion – dabei wäre sie durch meine wahre Erkenntnis längst überflüssig!
Ebenso überflüssig ist es in diesem Fall, dagegen anzukämpfen. Besser ist es, die Situation gleichmütig anzunehmen, mich nicht zu verurteilen, nicht wertlos zu fühlen, weil ich es „immer noch nicht geschafft habe, mich nicht mehr verletzten zu lassen“. Hingegen hole ich mir die theoretische Erkenntnis wieder einmal ins Bewusstsein und sage mir ganz ruhig und bestimmt: Das nächste Mal fühle ich mich nicht mehr verletzt.
Und selbst wenn es mich wieder „erwischt“ – dann war es halt noch nicht der richtige Zeitpunkt für mich, dieses alte Muster endgültig abzulegen, aber irgendwann wird es so weit sein, das ist gewiss!

Einen kurzen Beitrag von mir zum Thema Verhaltensmuster findet ihr auch hier.

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Verletzt werden und verletzen

Unsere Angst, Mitmenschen durch unsere Worte oder Taten zu verletzen, ist meistens recht gross – und entsprechend gross unsere Vorsicht, wie wir uns ausdrücken und handeln. Dabei schlucken wir manchmal etwas hinunter, was uns auf der Zungenspitze liegt, halten unsere Spontaneität unter Kontrolle: Wir sind nicht wirklich wir selbst. Über die Gründe, warum wir niemanden verletzen wollen, habe ich in meinem Beitrag „Lieben und verletzen“ geschrieben.
Heute stelle ich die Frage: Wer wird eigentlich verletzt, wer fühlt sich verletzt? Sind wir denn nicht alle unverwundbare Seelen?
In der Tat: Bin ich gänzlich in mir geborgen, liebe und wertschätze mich selbst – wer oder was könnte mich dann verletzen? Diese Verletzung, die ich als solche empfinde, betrifft immer eine Seite in mir, die (noch) nicht stark genug ist – verwundbar ist. Man sagt ja auch: verletzter Stolz, verletzte Eitelkeit, verletzte Selbstliebe, verletzte Würde…
Machen wir uns in solchen Situationen stets klar, dass nicht ich verletzt bin, sondern nur ein Teil in mir, der noch lernen muss, sich nicht verletzen zu lassen; sehen wir all diese Situationen als Chance zu lernen, zu erstarken.

Die folgenden Betrachtungen können uns zur Erkenntnis verhelfen, warum wir uns nie verletzt fühlen sollten, egal was jemand sagt oder tut – sei es aus Unwissenheit oder Bosheit.
Die Verhaltensweisen anderer Menschen uns gegenüber nehmen wir stets persönlich, wir fühlen uns herabgewürdigt, gedemütigt, angegriffen, verletzt.
Das Geheimnis, uns vom Verhalten anderer nicht treffen zu lassen, liegt darin, es nicht als persönlich, also nicht auf uns gerichtet, zu betrachten. Was der andere auch sagt und tut: Es entspringt dem grossen „Topf“, in dem die bewussten und unbewussten Erlebnisse, Erfahrungen und sich daraus ergebenden Wertvorstellungen und Handlungsmuster seines ganzen bisherigen Lebens gespeichert sind – und damit haben wir nichts, aber auch gar nichts zu tun! Deshalb ist sein Verhalten nicht auf uns persönlich abgezielt, sondern stellt lediglich eine Ausprägung seines Wesens dar, und wir sind nichts weiter als ein x-beliebiges Objekt, das sich gerade in der „Schusslinie“ befindet – wieso uns also getroffen fühlen und mit negativen Emotionen reagieren?
Was nicht heisst, dass wir den anderen nicht auf sein (unseres Erachtens) „falsches“ Verhalten hinweisen dürfen und sollen, im Gegenteil: Es ist unser Recht und unsere Pflicht – aber ohne uns dabei verletzt zu fühlen.

Wir sollten uns ferner bewusst werden, dass es sich in solchen Situationen um zwei verschiedene Dinge handelt: Wie ein anderer sich verhält, ist die eine Seite, und diese liegt in seiner Verantwortung, das heisst, er muss dafür vor sich selbst (nicht vor uns!) gerade stehen. Wie wir empfinden, ist eine ganz andere Sache und liegt allein in unserer Macht – das heisst, wir dürfen nicht einen anderen dafür verantwortlich machen, wie wir uns fühlen und reagieren.

Nun drehen wir den Spiess um. Wenn ich mich selbst bin, mich also so verhalte, wie ich es in mir spüre, und ein anderer fühlt sich dadurch verletzt: Ich bin für meine Taten mir selbst gegenüber verantwortlich, aber nicht dafür, wie ein anderer empfindet! Und ich habe das Recht, ja die Pflicht, mich selbst zu sein. Nur daraus kann ich nämlich lernen und mich innerlich entwickeln, nur dann neue Erkenntnisse gewinnen, wenn ich mich traue, spontan zu leben und aus den gemachten Erfahrungen zu lernen. Wenn ich ständig bloss eine Rolle spiele, hinter einer Maske (siehe Beitrag „Die schwere Maske“), bleibe ich in dieser Rolle gefangen und das wahre Leben zieht ungelebt an mir vorbei.

Habt den Mut, euch selbst zu leben – was kann euch schon passieren? Versucht es einfach! Selbst wenn einmal jemand auf euch böse ist, sich verletzt fühlt: Denkt immer daran, dass es nur sein verletztes Ego ist, und dass er dank eurer Offenheit wachsen und erstarken kann.

Zum Thema „Verletzungen“ findet ihr auch einen Beitrag hier.

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Lieben und verletzen

Vorgestern im Zug setzten sich zwei Männer hinter mich; ich konnte sie zwar nicht sehen, ihr Gespräch jedoch gut hören.
„Ich bin jetzt im letzten Viertel meines Lebens angekommen, und ich will so nicht weitermachen“, sagte der eine mit einer ruhigen Stimme; weder Wut noch Frustration schwangen mit. Dann erzählte er weiter, er hätte jetzt mit seiner Frau ein ausführliches Gespräch gehabt, ihr dann auch einen langen Brief geschrieben, in welchem er alles nochmals schriftlich festgehalten habe, damit sie nicht länger die Augen davor verschliessen und auf die Probleme endlich richtig hinsehen müsse.
Ich entnahm dem weiteren Gespräch noch, dass er sich in absehbarer Zeit von ihr trennen würde – dann musste ich aussteigen und erfuhr nichts mehr über die Gründe.

Und die Gründe spielen auch keine Rolle. Sie sind ohnehin subjektiv: Sie entsprechen jeweils der Wahrnehmung des individuellen Menschen. Objektivität gibt es dabei nicht, selbst wenn die ganze Menschheit sich einig wäre und es anders sähe! Es kommt schlussendlich nur darauf an, wie dieser Mann die Situation seiner Ehe empfindet – ob sie für ihn erträglich ist oder nicht, ihn glücklich macht oder nicht… In diesem Sinne ist es auch keine Frage der Schuld, wenn ein Paar sich trennt. Jemand kann beispielsweise Untreue, Unehrlichkeit und mehr verzeihen, aus tiefstem Herzen verzeihen (nicht etwa aus Angst, den Partner zu verlieren und allein zu sein) – während ein anderer Untreue nicht akzeptieren kann, will, und die Beziehung deswegen beendet. Wer handelt „richtig“, wer „falsch“? Wer von uns darf sich ein Urteil darüber anmassen? Einzig die subjektive Wahrnehmung des „Betroffenen“ zählt und einzig er hat das Recht, eine Entscheidung für sein Leben zu fällen.
Es hat mich beeindruckt, dass der Mann im Zug diese Entscheidung offenbar jetzt für sich gefunden hat, dass er zu sich selbst steht, ohne Angst, wohl auch ohne die Angst, seiner Frau weh zu tun – wer weiss nach wie vielen unbefriedigenden Ehejahren, nach wie vielen Krisen und neuen Hoffnungen… Und dieses Recht hat er: Seine Entscheidungen für sein Leben zu fällen.

Gestern habe ich Adrian*, einen Freund, der mir sehr nahe steht, getroffen. Bei ihm kenne ich die Gründe, warum er in seiner Ehe nicht glücklich ist – aber er liebt seine Frau so sehr, dass er bisher 15 Jahre lang ausgeharrt hat.
Ich will nochmals deutlich wiederholen: Auch in diesem Fall geht es nicht darum, ob er objektive, von der „Allgemeinheit“ akzeptierte Gründe hätte, seine Frau zu verlassen, oder um die Schuldfrage – es zählt nur, wie Adrian die Situation empfindet.
Im Laufe unseres Gesprächs fragte ich ihn, ob es für ihn trotzdem denkbar wäre, sie zu verlassen. Er hoffe immer noch auf ein Wunder, meinte er, dass sie sich ändere.
Dann fügte er hinzu: „Wenn ich ihr mitteilen würde, dass ich sie verlasse – und sie beginnt zu weinen… Das könnte ich nicht ertragen, weil ich sie liebe.“ Für diese grosse Liebe achte ich ihn sehr.

Dennoch bin ich bei diesen Worten hellhörig geworden. Nicht ertragen, jemanden weinen zu sehen. Nicht ertragen, jemandem weh zu tun. Wie sehr scheuen wir uns doch davor, einen Mitmenschen zu „verletzen“! Das ist ja auch gut so, wir sollen anderen nicht willentlich oder fahrlässig ein Leid zufügen…
Doch was ist mit mir selbst? Wie oft verletze ich mich selbst in meinem Bemühen, keinen anderen zu verletzen? Warum werde ich mir selbst untreu, bloss um nicht zusehen zu müssen, wie ein anderer „wegen mir“ leidet? Genau so wichtig, wie andere nicht zu verletzen, ist es, mich selbst nicht zu verletzen. Wer in welcher Situation „Priorität“ hat, kann nur jeder für sich selbst spüren.

Es kann tatsächlich sein, dass ich mit jeder Situation fertig werde, wahrhaft darüber stehe, und somit alles auf mich nehmen kann – ohne selbst zu leiden und ohne unglücklich zu sein; deshalb verhalte ich mich immer, wie es die anderen wünschen und von mir erwarten, und ich tue ihnen dadurch nie weh. – Ob es für die Mitmenschen gut ist, ihr Ego derart gewähren zu lassen, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt…

Ganz so selbstlos ist es indes nicht immer, wenn wir uns scheuen, andere zu verletzen. Hier einige Anregungen zum Nachdenken.
• Ich scheue mich davor, andere zu verletzen, weil ich Angst habe, dass sie mich dann nicht mehr akzeptieren, schätzen, lieben, oder ich fürchte das Urteil anderer Mitmenschen über mein Verhalten; ebenso will ich vermeiden, dass ich nachher Schuldgefühle bekomme, mir Vorwürfe mache und mich deshalb schlecht fühle.
• Ich hüte mich davor, andere zu verletzen, weil ich selbst nicht verletzt werden will; ich glaube (oder hoffe!), dass es so funktioniert, wie das Sprichwort meint: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem andern zu.“ – Zeigt eure Erfahrung, dass es tatsächlich so ist? Und selbst wenn es so wäre: Dann beruht mein Verhalten doch auf Angst und ich bin mir dadurch selbst untreu, weil ich nicht so handle, wie ich es wirklich möchte. Das ist nicht gut für mich!
• Und schliesslich eine dritte Möglichkeit, eine sehr häufige, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind. Ich ertrage es nicht, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Es tut mir weh, wenn es einem anderen nicht gut geht. Ich leide. Genau betrachtet, besteht kein Unterschied, ob ich leide, weil ich beispielsweise krank bin, im Beruf einen Misserfolg einstecken musste, ein mir nahestehender Mensch gestorben ist und mehr, oder ob ich leide, weil ich zusehe, zusehen muss, wie es einem anderen schlecht geht. Deshalb versuche ich, eine solche Situation zu vermeiden und scheue mich, meine Mitmenschen zu verletzen. – Doch dabei geht es nur um mich selbst: Ich leide an meiner Unfähigkeit, den Schmerz eines anderen auszuhalten. Oder ich bekomme Schuldgefühle – unter denen ich dann leide. Oder ich fürchte das Urteil meiner Mitmenschen – unter dem ich dann leide.

Es kann nur jeder Mensch für sich selbst spüren, ob einer der obigen Punkte auf ihn zutrifft. Aber seid ehrlich zu euch selbst – schaut genau in euch hinein und belügt euch nicht!

Auf die ganze Thematik „Verletze ich oder fühlt sich der andere verletzt?“ – „Wer verletzt?“ – „Wer fühlt sich verletzt?“ – „Ego oder Seele?“ – „Was ist der Massstab für Verletzung?“ – „Ist jemanden zu verletzen Recht oder Unrecht?“ bin ich in diesem Text nicht eingegangen. Mehr dazu nächste Woche!

*Name aus Diskretionsgründen geändert.

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Mit Steinen werfen…

Ein Fakir (= heiliger Mann, Weiser) ging mit einer Gruppe seiner Jünger über den grossen Platz vor der Moschee, als einige Meter neben ihnen ein Betrunkener vorbeitorkelte. Der Fakir hob einen Stein vom Boden auf, schleuderte ihn gegen den Mann und traf ihn voll in die Brust. Der Betrunkene schreckte auf und stolperte in eine andere Richtung davon.

Szenenwechsel. Seit fast 30 Jahren arbeite ich selbstständig und noch nie ist es vorgekommen, dass jemand eine meiner Rechnungen nicht bezahlt hätte. Bis vor einigen Monaten. Eine Person, nennen wir sie X, überwies das geschuldete Kursgeld nicht. Ich erinnerte sie mehrmals per E-Mail daran – keine Reaktion. So sandte ich im Laufe der Monate drei formelle schriftliche Mahnungen, drohte in der letzten die Betreibung an. X meldete sich nicht und bezahlte nicht.
Bevor ich beim zuständigen Amt das Betreibungsbegehren stellte, dachte ich wohl darüber nach, ob ich es wirklich tun sollte – vielleicht steckte X in grossen finanziellen Schwierigkeiten, wer weiss… Doch dann spürte ich in mir, dass es das richtige Vorgehen ist, und ich leitete die Betreibung letzte Woche ein.

Szenenwechsel, zurück zum Fakir. Die Jünger fragten ihren Meister, was sein seltsames Benehmen zu bedeuten hätte, und er erklärte es ihnen: „Der Betrunkene ist ein Dieb und Wegelagerer mit Blut an den Händen. Doch heute hat er eine gute Tat vollbracht, indem er einer alten blinden Frau half, den Weg zur Moschee zu finden. Wäre er doch auch hineingegangen! Doch sein Weg führte ihn in die Taverne und dann fand er den Heimweg nicht mehr. Ich dachte, ich belohne ihn in gleicher Weise: Der Stein schickte ihn stolpernd auf den richtigen Weg zu seinem Haus.“

Szenenwechsel, zurück zu meiner Betreibung. Vor wenigen Tagen rief X mich an: „Es tut mir leid, dass ich Ihre Rechnung nicht bezahlt habe. Ich stecke seit längerem in Beziehungsproblemen und jetzt steht die Trennung bevor. Ich habe mich in den letzten Monaten vollständig gehen lassen, keine Post mehr geöffnet; nun suche ich mir eine neue Wohnung… Ich habe gestern den ausstehenden Betrag überwiesen; bitte ziehen Sie die Betreibung zurück, damit ich im Register nicht eingetragen werde.“ Ich sicherte es X zu.

Und die Moral der beiden Geschichten? Der Fakir als hellsichtiger Mann hat den Stein bewusst geworfen und damit dem Betrunkenen etwas Gutes getan – eine oberflächlich betrachtet „böse“ Handlung hat etwas Gutes bewirkt.
Ich habe gegen X gewissermassen auch einen Stein geschleudert – obwohl ich nicht hellsichtig bin, hat meine innere Stimme mir gesagt, dass es das Richtige ist: Richtig, nicht nur vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, sondern einfach weil ich spürte, dass ich so handeln soll. Und ich glaube, ich habe X aus seiner Lethargie gerissen, ihm einen Stoss versetzt, der ihn seine Richtung ändern liess, hat er doch endlich mir gegenüber reagiert – und er wird wohl auch in anderen Belangen seiner schwierigen persönlichen Situation nun endlich reagieren! Möglicherweise hat mein „Stein“ ihm also etwas Gutes getan.
Doch ob ich erkenne, ihm damit geholfen zu haben oder nicht, ist nicht wichtig: Entscheidend ist, dass ich mich so verhalten habe, wie ich es in mir spürte – ohne die Angst, jemanden zu verletzen oder ihm zu schaden.

Traut euch stets, so zu handeln, wie ihr es spürt, nach bestem Wissen und Gewissen! Habt dieses Urvertrauen, dass wir niemandem etwas antun können, was nicht für ihn bestimmt ist, niemandem eine Verletzung zufügen können, die ihm in seiner inneren Entwicklung nicht weiterhilft!
Handeln wir nämlich gemäss unserer inneren Stimme, geschieht es im Einklang mit dem Kosmischen Plan – jeder Mensch ist darin ein Werkzeug für den anderen. Oder wie es der Gott Krishna in der Bhagavadgita erklärte: „Du kannst niemanden töten, den Ich nicht schon getötet habe.“
Umgekehrt gilt natürlich auch: Niemand kann euch etwas antun, was nicht für euch bestimmt ist. Habt deshalb dieses gleiche Urvertrauen, wenn jemand – oder das Schicksal – euch verletzt, euch prüft, und versucht zu erkennen, was es euch lehren will!

Die Geschichte mit dem Fakir stammt aus dem Roman „Master of the Jinn“ von Irving Karchmar.

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