Loslassen und annehmen oder selber bestimmen?

Patrick* ist ein enger Freund von mir, den ich seit zwei Jahrzehnten kenne. Und seit ich ihn kenne, lebt er mit einer Frau zusammen, die ihm das Leben zur Hölle macht, je länger je mehr.
Sie lässt keine Gelegenheit aus, ihn zurechtzuweisen, auf erniedrigende Art, sie behandelt ihn wie einen Hund, nie hat sie ein gutes Wort, eine liebevolle Geste für ihn, man hat manchmal den (keinesfalls aus der Luft gegriffenen) Eindruck, sie wünsche ihm den Tod. Warum sie sich nicht von ihm trennt, wenn er ihr doch so zuwider ist? Ich weiss es nicht. Vielleicht braucht sie jemanden, nach dem sie treten kann. Aber das ist ihre Sache, auch kenne ich sie nicht gut genug, um mir ein Urteil anzumassen.

Warum er sich nicht von ihr trennt, obwohl er leidet, das beschäftigt mich. Und darüber diskutiere ich mit Patrick auch schon seit Jahrzehnten immer wieder einmal. Meistens in Zeiten, in denen ich gerade eine wichtige Entscheidung fällen will, um eine für mich nicht erträgliche Situation zu ändern. Da prallen dann unsere Meinungen aufeinander.

Er meint, ich könne zu wenig annehmen, ich wolle immer selber meinen Lebensweg lenken, „dreinpfuschen“ nennt er es zuweilen, ich hätte zu wenig Geduld, um den Dingen ihren Lauf zu lassen, und zu wenig Urvertrauen, dass die Höheren Mächte schon alles so regeln, wie es für alle Beteiligten das Beste ist.

Ich entgegne, meine Devise sei „Hilf dir selbst, dann hilf dir Gott“, wir dürften nicht einfach die Hände in den Schoss legen und darauf warten, dass die Dinge von aussen für uns geregelt werden, Leben bedeute auch Entscheidungen zu treffen, dazu hätten wir doch den freien Willen, und wir hätten die Pflicht aktiv mitzuwirken. Meistens füge ich irgendwann noch an: „Und ich verstehe nicht, warum du dich nicht von deiner Freundin trennst, warum du dir all das gefallen lässt, wo bleibt denn deine Würde als Mensch?“

Worauf er mir zum x-ten Mal erklärt, dass seine Situation ja kein Zufall sei, er sei dieser Frau begegnet, weil er etwas lernen müsse, ja, es sei unangenehm, aber aus den unangenehmen Situationen lernten wir schliesslich, wir dürften nicht immer ausweichen, fliehen, kaum dass uns etwas nicht passt.

Und nach einer halben Stunde oder so beenden wir dann unser Gespräch jeweils mit den Worten „Du hast deine Meinung, ich meine, das ist gut so, jeder von uns muss das tun, was er für sich als richtig spürt“, und wir bleiben die guten Freunde, die wir seit Jahrzehnten sind.

Tatsächlich ist es ja so. Was für ihn stimmt, muss für mich stimmen, und umgekehrt. Jeder von uns hat seinen ganz eigenen Lebensweg, seine ganz eigenen Aufgaben in diesem Leben – und jeder kann nur für sich selbst, in seiner Seele, spüren, welcher Weg der richtige ist.

Die Selbstbestimmung ist übrigens auch das Thema meines unmittelbar vorangehenden Artikels mit gleichem Datum.

* Name aus Diskretionsgründen geändert.

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2 Gedanken zu “Loslassen und annehmen oder selber bestimmen?

  1. Liebe Karin,

    wenn die Situation deines Freundes nicht so traurig wäre, wäre sie teilweise zum Schmunzeln. Schmunzeln in Bezug auf den Inhalt der interessanten Diskussion.
    Ich selbst vertrete deine Ansicht, erkenne aber auch die Ansicht deines Freundes wieder. Dies war meine eigene Haltung, bevor ich mich in einer ähnlichen Lage für Leben und Selbstliebe statt Vegetieren und Opferrolle entschieden habe.

    Interessant ist die Erklärung deines Freundes, der sagt, dass er diese Situation erträgt, weil er daraus lerne. Hat er konkret genannt, was er lernt und was er mit dem Gelernten tut?
    Zweifelsfrei lernt er etwas, idealerweise auch vor allem etwas über sich selbst, aber lernen wir nicht, um mit dem Gelernten unsere eigene Entwicklung zu fördern?
    Wie steht er dazu?
    Es wäre traurig, wenn es eine Art lebenslange Eigenstudie würde, wieviel Leid und Gewalt (Gewalt ist nicht nur auf körperliche Gewalt beschränkt) ein Mensch ertragen kann.
    Vielleicht speichert er das Erlernte und eines Tages gelingt ihm der Befreiungsakt und wählt er sich selbst. Jeder Mensch ist anders und bestimmt seinen eigenen Rythmus.

    Was aus deinem Artikel sehr positiv herausstrahlt, ist der Respekt und die bedingungslose (freundschaftliche) Liebe, die du deinem Freund entgegenbringst. Loslassen ist hierbei ein wunderbares Instrument.
    Das hat mich sehr berührt.

    Alles Liebe
    Steffi

  2. Liebe Steffi

    Danke für deine weisen Gedanken. Ja, Respekt ist für mich die Grundlage jeder Freundschaft und noch viel mehr jeder Liebesbeziehung. Und genau dieser Respekt fehlt Patricks Parnerin.

    Was er lernen will? Er sagt, dass er in seinen jüngeren Jahren immer alles selber in die Hand nehmen wollte, er ist oft auch mit dem Kopf durch die Wand gegangen – und hat einige Beulen davongetragen. Nicht zuletzt eine schwere Erkrankung hat ihn schliesslich auf einen spirituellen Weg geführt und er will lernen, sich dem Göttlichen zu überlassen. Er vertritt den Standpunkt, dass wenn sich in seinem Leben etwas ändern soll, es „von aussen“ kommen muss.
    Das ist genau die Ansicht, die ich eben nicht teile. Ich glaube nicht, dass alles, was uns von aussen angeboten wird, auch gut ist – wir können schliesslich auch Nein sagen zu dem, was auf uns zukommt; und umgekehrt eben, dass wir nicht in einer leidvollen Situation verharren müssen, einfach weil sie nun einmal so ist, sondern selber in jedem Augenblick unseres Lebens entscheiden dürfen und sollen, was wir tun und was wir lassen. Schlimmstenfalls treffen wir eine „falsche“ Entscheidung und lernen dann daraus. Aber alles hinnehmen, alles erdulden… nein, das ist nicht mein Weg.

    Und es freut mich sehr für dich, dass du dich für die Selbstliebe und das Leben entschieden und deine Schritte gemacht hast.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Mut und Kraft und Weisheit!

    Herzlichst,
    Karin

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