Lieben und verletzen

Vorgestern im Zug setzten sich zwei Männer hinter mich; ich konnte sie zwar nicht sehen, ihr Gespräch jedoch gut hören.
„Ich bin jetzt im letzten Viertel meines Lebens angekommen, und ich will so nicht weitermachen“, sagte der eine mit einer ruhigen Stimme; weder Wut noch Frustration schwangen mit. Dann erzählte er weiter, er hätte jetzt mit seiner Frau ein ausführliches Gespräch gehabt, ihr dann auch einen langen Brief geschrieben, in welchem er alles nochmals schriftlich festgehalten habe, damit sie nicht länger die Augen davor verschliessen und auf die Probleme endlich richtig hinsehen müsse.
Ich entnahm dem weiteren Gespräch noch, dass er sich in absehbarer Zeit von ihr trennen würde – dann musste ich aussteigen und erfuhr nichts mehr über die Gründe.

Und die Gründe spielen auch keine Rolle. Sie sind ohnehin subjektiv: Sie entsprechen jeweils der Wahrnehmung des individuellen Menschen. Objektivität gibt es dabei nicht, selbst wenn die ganze Menschheit sich einig wäre und es anders sähe! Es kommt schlussendlich nur darauf an, wie dieser Mann die Situation seiner Ehe empfindet – ob sie für ihn erträglich ist oder nicht, ihn glücklich macht oder nicht… In diesem Sinne ist es auch keine Frage der Schuld, wenn ein Paar sich trennt. Jemand kann beispielsweise Untreue, Unehrlichkeit und mehr verzeihen, aus tiefstem Herzen verzeihen (nicht etwa aus Angst, den Partner zu verlieren und allein zu sein) – während ein anderer Untreue nicht akzeptieren kann, will, und die Beziehung deswegen beendet. Wer handelt „richtig“, wer „falsch“? Wer von uns darf sich ein Urteil darüber anmassen? Einzig die subjektive Wahrnehmung des „Betroffenen“ zählt und einzig er hat das Recht, eine Entscheidung für sein Leben zu fällen.
Es hat mich beeindruckt, dass der Mann im Zug diese Entscheidung offenbar jetzt für sich gefunden hat, dass er zu sich selbst steht, ohne Angst, wohl auch ohne die Angst, seiner Frau weh zu tun – wer weiss nach wie vielen unbefriedigenden Ehejahren, nach wie vielen Krisen und neuen Hoffnungen… Und dieses Recht hat er: Seine Entscheidungen für sein Leben zu fällen.

Gestern habe ich Adrian*, einen Freund, der mir sehr nahe steht, getroffen. Bei ihm kenne ich die Gründe, warum er in seiner Ehe nicht glücklich ist – aber er liebt seine Frau so sehr, dass er bisher 15 Jahre lang ausgeharrt hat.
Ich will nochmals deutlich wiederholen: Auch in diesem Fall geht es nicht darum, ob er objektive, von der „Allgemeinheit“ akzeptierte Gründe hätte, seine Frau zu verlassen, oder um die Schuldfrage – es zählt nur, wie Adrian die Situation empfindet.
Im Laufe unseres Gesprächs fragte ich ihn, ob es für ihn trotzdem denkbar wäre, sie zu verlassen. Er hoffe immer noch auf ein Wunder, meinte er, dass sie sich ändere.
Dann fügte er hinzu: „Wenn ich ihr mitteilen würde, dass ich sie verlasse – und sie beginnt zu weinen… Das könnte ich nicht ertragen, weil ich sie liebe.“ Für diese grosse Liebe achte ich ihn sehr.

Dennoch bin ich bei diesen Worten hellhörig geworden. Nicht ertragen, jemanden weinen zu sehen. Nicht ertragen, jemandem weh zu tun. Wie sehr scheuen wir uns doch davor, einen Mitmenschen zu „verletzen“! Das ist ja auch gut so, wir sollen anderen nicht willentlich oder fahrlässig ein Leid zufügen…
Doch was ist mit mir selbst? Wie oft verletze ich mich selbst in meinem Bemühen, keinen anderen zu verletzen? Warum werde ich mir selbst untreu, bloss um nicht zusehen zu müssen, wie ein anderer „wegen mir“ leidet? Genau so wichtig, wie andere nicht zu verletzen, ist es, mich selbst nicht zu verletzen. Wer in welcher Situation „Priorität“ hat, kann nur jeder für sich selbst spüren.

Es kann tatsächlich sein, dass ich mit jeder Situation fertig werde, wahrhaft darüber stehe, und somit alles auf mich nehmen kann – ohne selbst zu leiden und ohne unglücklich zu sein; deshalb verhalte ich mich immer, wie es die anderen wünschen und von mir erwarten, und ich tue ihnen dadurch nie weh. – Ob es für die Mitmenschen gut ist, ihr Ego derart gewähren zu lassen, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt…

Ganz so selbstlos ist es indes nicht immer, wenn wir uns scheuen, andere zu verletzen. Hier einige Anregungen zum Nachdenken.
• Ich scheue mich davor, andere zu verletzen, weil ich Angst habe, dass sie mich dann nicht mehr akzeptieren, schätzen, lieben, oder ich fürchte das Urteil anderer Mitmenschen über mein Verhalten; ebenso will ich vermeiden, dass ich nachher Schuldgefühle bekomme, mir Vorwürfe mache und mich deshalb schlecht fühle.
• Ich hüte mich davor, andere zu verletzen, weil ich selbst nicht verletzt werden will; ich glaube (oder hoffe!), dass es so funktioniert, wie das Sprichwort meint: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem andern zu.“ – Zeigt eure Erfahrung, dass es tatsächlich so ist? Und selbst wenn es so wäre: Dann beruht mein Verhalten doch auf Angst und ich bin mir dadurch selbst untreu, weil ich nicht so handle, wie ich es wirklich möchte. Das ist nicht gut für mich!
• Und schliesslich eine dritte Möglichkeit, eine sehr häufige, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind. Ich ertrage es nicht, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Es tut mir weh, wenn es einem anderen nicht gut geht. Ich leide. Genau betrachtet, besteht kein Unterschied, ob ich leide, weil ich beispielsweise krank bin, im Beruf einen Misserfolg einstecken musste, ein mir nahestehender Mensch gestorben ist und mehr, oder ob ich leide, weil ich zusehe, zusehen muss, wie es einem anderen schlecht geht. Deshalb versuche ich, eine solche Situation zu vermeiden und scheue mich, meine Mitmenschen zu verletzen. – Doch dabei geht es nur um mich selbst: Ich leide an meiner Unfähigkeit, den Schmerz eines anderen auszuhalten. Oder ich bekomme Schuldgefühle – unter denen ich dann leide. Oder ich fürchte das Urteil meiner Mitmenschen – unter dem ich dann leide.

Es kann nur jeder Mensch für sich selbst spüren, ob einer der obigen Punkte auf ihn zutrifft. Aber seid ehrlich zu euch selbst – schaut genau in euch hinein und belügt euch nicht!

Auf die ganze Thematik „Verletze ich oder fühlt sich der andere verletzt?“ – „Wer verletzt?“ – „Wer fühlt sich verletzt?“ – „Ego oder Seele?“ – „Was ist der Massstab für Verletzung?“ – „Ist jemanden zu verletzen Recht oder Unrecht?“ bin ich in diesem Text nicht eingegangen. Mehr dazu nächste Woche!

*Name aus Diskretionsgründen geändert.

Artikel teilen auf:
Facebooktwitter

3 Gedanken zu “Lieben und verletzen

  1. Und warum spricht Adrian nicht offen und klar mit seiner Frau über sein Missbehagen und versucht gemeinsam mit ihr herauszufinden, was falsch läuft? Weiss seine Ehefrau von seinem Missbehagen? Vielleicht leidet Sie ja auch, gerade wegen des Unausgesprochenen, das zwischen den Beiden klafft.
    Veränderungen verlangen zwar viel von einem, gemeinsam “erarbeitetete” Strategien – das tönt so gestelzt, nicht wahr? – könnten aber neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Wär’s vielleicht einen Versuch wert?
    Mich dünken diese schwarz/weiss-Lösungen immer etwas beladen, manchmal kann es doch so eine Art Mittelweg sein. Kompromiss halt, aber das Leben besteht aus Kompromissen.

  2. Ich gehe mit dir vollkommen einig, Verena, dass es in einer Beziehung das Wichtigste ist, offen miteinander zu sprechen, und gemeinsam eine Lösung zu suchen. Doch viele Menschen haben Angst davor, Angst vor den Konsequenzen.

    Und im speziellen Fall von Adrian ist die Sache schon recht kompliziert. Ich habe sie nur aus seinem Blickwinkel kurz erwähnt, um eben diese Angst, den Partner zu verletzen, aufzuzeigen.
    Wenn Adrian seiner Frau offen sagen würde, warum für ihn die Beziehung nicht stimmt, so wäre sie wirklich sehr verletzt. Es sind allerdings Adrians ureigene Probleme mit sich selbst, um die es dabei geht; ich will sie hier im Detail nicht erwähnen, weil sie nichts zum eigentlichen Thema „Verletzung“ beitragen. Ich kenne die Situation jedoch sehr genau, und kann nur soviel sagen: In diesem Fall müsste Adrian sich trennen, will er zu sich selbst stehen und sich auch seiner Frau gegenüber aufrichtig und fair verhalten.

  3. Danke für Deine Antwort. Natürlich erwarte ich keine detaillierten Ausführungen, völlig klar. Ich habe diese Schilderung aufgegriffen, weil ich persönlich Adrians Verhalten gerade als verletzend empfinde aber natürlich als Aussenstehende. Aufrichtigkeit, dosiert vermittelt ist in aller Regel heilsam auch Aufrichtigkeit mit sich selbst (da ist sie allerdings meist besonders schmerzhaft). Aber wie auch ich geschrieben habe, ist das Leben eben voller Kompromisse und das scheint so einer zu sein.

Schreibe einen Kommentar zu verena wittwer Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert