Lieb Kind

Eines der Verhaltensmuster aus der Kindheit, in das wir als Erwachsene am häufigsten wieder fallen: das liebe Kind sein zu wollen.
Uns bei jemandem anzubiedern oder einzuschmeicheln, kann zwar auch aus Berechnung erfolgen, weil wir uns einen Vorteil davon versprechen. Doch oft geschieht es unbewusst, wie eine spontane Reaktion, sobald jemand uns um etwas bittet, etwas von uns verlangt oder auch nur still erwartet. Wir haben Ja gesagt, bevor wir darüber nachgedacht haben und ohne zuerst auf die eigenen Bedürfnisse zu hören.

Unzählige sind die Situationen, in denen uns dieses „Liebkindphänomen“ passieren kann. Bitten um einen Gefallen, die wir eigentlich ablehnen wollen. Einladungen, die wir in Wirklichkeit gar nicht annehmen möchten. Berechtigte Reklamationen oder Kritiken, die wir nicht anbringen. Unsere wahre Meinung nicht äussern. Eine Reaktion zeigen, obwohl es uns im Grunde genommen nicht interessiert. Eine überdurchschnittliche Leistung erbringen, obwohl wir die Kraft dazu gar nicht haben. Und heutzutage auch dem Druck der sozialen Medien nachgeben, Präsenz zeigen, Kommentare abgeben, liken…

Es ist nicht unbedingt ein ausgeprägter Mangel an Selbstliebe, der hier dahintersteckt. Obwohl ich von mir wahrlich behaupten darf, dass es mir an Selbstliebe nicht mehr mangelt, stelle ich dennoch fest, dass ich hie und da in dieses Muster falle – wie gesagt, es ist eine unbewusste Reaktion auf einen „äusseren Reiz“. Zu oft hatte ich in meiner Kindheit und Jugend alles getan, um Liebe zu bekommen, mich angenommen zu fühlen. Und ich bin davon überzeugt, dass es vielen von euch ähnlich ergeht.
Darum brauchen wir, um dieses Verhaltensmuster loszuwerden, nicht speziell an der Stärkung unserer Selbstliebe zu arbeiten, vielmehr an der Achtsamkeit. Es geht darum, die entsprechenden Situationen rechtzeitig wahrzunehmen, sodass wir die Chance haben darüber nachzudenken, was wir sagen, wie wir uns verhalten wollen.
Eine Methode besteht darin, solche Situationen, auf die wir automatisch „hereinfallen“, in Gedanken, in einer Art Imagination, durchzuspielen und beim entscheidenden Punkt zu verweilen, gut in uns zu spüren, wie es sich anfühlt und uns dieses bestimmte Gefühl einzuprägen.
Kommen wir dann wirklich wieder einmal in diese Lage, werden wir eben dieses Gefühl in uns wahrnehmen – und das sollte uns aufhorchen lassen und uns diesen winzigen Augenblick einer „Auszeit“ gewähren, in dem wir uns bewusst für unsere Reaktion entscheiden können.
Allerdings wird es uns vermutlich nicht jedes Mal gelingen, denn es ist tatsächlich Übungssache: Je häufiger wir es praktizieren, desto stärker wird sich dieses neue Verhalten in uns einprägen und mit der Zeit das alte, automatische Verhalten des Musters verdrängen.

Artikel teilen auf:
Facebooktwitter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert