Immer nur den nächsten Schritt

Vor vielen Jahren las ich mit Begeisterung die Werke von Mahatma Gandhi. Bekannt ist er ja vor allem als Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung mit seinem gewaltlosen Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft; hingegen wissen nicht alle, dass sein Lebensziel ein spirituelles war, dass er betete, meditierte und in Enthaltsamkeit lebte.
In einem seiner Bücher begegnete mir eine Aussage eines britischen Kardinals, die mir bis heute im Gedächtnis – und im Herzen! – haften geblieben ist: One step is enough for me (ein Schritt ist genug für mich). Es geht um das Licht, das uns durch unser Leben führt, uns den Weg erleuchtet. Wir wollen immer weit in die Ferne sehen, unser Leben planen und im Griff haben. Dabei ist es nicht wichtig! Es genügt doch, wenn wir in dunkler Nacht unterwegs sind, dass das Licht auf den halben Meter vor uns fällt, damit wir den nächsten Schritt sicher machen können – wozu brauchen wir weiter zu sehen?

Es war damals, als ich es zum ersten Mal las, eine kleine „Erleuchtung“ für mich! So tief, so weit muss Urvertrauen gehen: Nicht weit in die Zukunft sehen wollen, keine Gewissheit des eigenen Weges suchen, nur immer gerade den unmittelbar bevorstehenden Schritt sehen… In all den Jahren seither habe ich versucht, so zu leben.
Erst vor kurzem hat mir ein Bekannter in einer E-Mail einen Bibelpsalm zitiert: „Gottes Wort ist mir eine Leuchte auf meinem Fuss“ (Psalm 119/105). Ich kenne die Bibel nicht wirklich und hatte von dieser Stelle noch nie gehört – doch schlagartig kam mir die Aussage, die ich seinerzeit bei Gandhi gelesen hatte, wieder in den Sinn. Ich erinnerte mich allerdings weder an den ganzen Zusammenhang noch an den Namen des Kardinals.

Internet sei Dank habe ich es heute leicht wiederfinden können und führe nachfolgend dieses Gedicht im Original und in deutscher Übersetzung auf.

Lead, kindly Light
von Kardinal John Henry Newman (1801-1890)

Lead, kindly Light, amid th’encircling gloom, lead Thou me on!
The night is dark, and I am far from home; lead Thou me on!
Keep Thou my feet; I do not ask to see
The distant scene; one step enough for me.

I was not ever thus, nor prayed that Thou shouldst lead me on;
I loved to choose and see my path; but now lead Thou me on!
I loved the garish day, and, spite of fears,
Pride ruled my will. Remember not past years!

So long Thy power hath blest me, sure it still will lead me on.
O’er moor and fen, o’er crag and torrent, till the night is gone,
And with the morn those angel faces smile, which I
Have loved long since, and lost awhile!

Deutsche Übersetzung (exakt, ohne poetischen Anspruch!)
Führe, gütiges Licht
Führe, gütiges Licht, in der umgebenden Finsternis, führe Du mich voran!
Die Nacht ist dunkel, und ich bin fern der Heimat; führe Du mich voran!
Leite Du meinen Fuss, ich verlange nicht,
In die Ferne zu sehen; ein Schritt ist genug für mich.

Ich war nicht immer so, noch betete ich, Du mögest mich führen.
Ich liebte es, zu entscheiden und meinen Weg zu sehen; doch nun, führe Du mich voran!
Ich liebte den grellen Tag, und trotz der Ängste,
Beherrschte Hochmut meinen Willen. Denke nicht an vergangene Jahre!

Du hast mich bisher immer mit Deiner Kraft gesegnet, und sicher wird sie mich weiterhin führen.
Durch Moor und Sumpf, über Klippen und reissende Flüsse, bis die Nacht vorüber ist,
Und mit dem Morgen die Engelgesichter lächeln, die ich
Seit jeher liebte, doch für eine Weile verloren hatte!

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