Ich will ihm nicht wehtun!

Wie oft habe ich auf dieser Website schon geschrieben, dass wir keine Angst haben sollen, jemandem wehzutun? (Natürlich nicht böswillig, sondern einfach weil wir auf uns selbst hören.)

In den letzten Wochen ist mir diese Erfahrung auch wieder einmal nicht erspart geblieben. Und wieder einmal habe ich deutlich gespürt, wie schwer es ist! Umso schwerer, je näher uns jemand steht.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe es nicht geschafft. Ich habe mehrmals geschwiegen, obwohl ich etwas hätte sagen sollen. Ich wollte einen Freund, den ich sehr lieb hatte und der stark an mir hing, nicht verletzen und wurde deshalb mir selbst untreu.
Gott straft sofort, sagt man. Dem stimme ich natürlich nicht zu, es ist niemals eine Strafe, sondern immer eine Lektion in der Lebensschule, damit wir etwas lernen. Jedenfalls ist die Lektion postwendend über mich hereingebrochen!

Hier die Geschichte. Gut zwei Monate lang pflegte ich mit Martin* einen äusserst intensiven Kontakt, mehrere Stunden täglich, sei es per E-Mail oder im persönlichen Gespräch. Allerdings hatte ich von Anfang an gemerkt, dass er auf der alltäglichen Ebene, vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen, ein sehr schwieriger – um nicht zu sagen absolut nicht umgänglicher! – Mensch ist. Ich sah darüber hinweg, akzeptierte seine Eigenheiten und schwieg oft, obwohl mir etwas auf der Zunge lag. Ich betrachtete es als eine herausfordernde Aufgabe für mich, zu lernen, damit umzugehen, mich nicht gekränkt zu fühlen und mich ganz auf seine positiven Seiten zu konzentrieren.
Doch im Grunde genommen war es mir zu viel. Rein zeitlich beanspruchte er mich über das hinaus, was meine Arbeit und meine anderen Verpflichtungen erlaubten; zudem war die Kommunikation über die Massen aufreibend und oft so unbefriedigend für mich, dass ich keine Chance sah, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, und den Kontakt am liebsten schon nach zwei Wochen wieder abgebrochen hätte.
Aber er hing doch so sehr an mir! Er brauchte mich! Und vor allem: Ich wusste, dass ich ihm wehtun würde, wenn ich unsere Beziehung beendete, sehr weh. Das wollte ich nicht, obwohl meine innere Stimme mir deutlich sagte, ich solle es tun, und zwar unverzüglich (die gleiche Geschichte unter diesem Aspekt könnt ihr im unmittelbar nachfolgenden Artikel lesen; mehr zum Aspekt der Verhaltensmuster auf meiner Website Karma-Yoga).
Jedenfalls brachte ich es nicht übers Herz, machte weiter wie bis anhin, mit all den Schwierigkeiten.

Zusammenfassend: Ich habe nicht auf mich gehört, bin mir selbst untreu geworden, habe nicht das gemacht, was ich in meinem Innern als richtig spürte – um jemanden nicht zu verletzen.

Wie gesagt, die Lektion des Lebens kam unverzüglich! Vor einer knappen Woche. An jenem Tag hatten wir schon mehrere E-Mails ausgetauscht, eine angeregte stündige Unterhaltung geführt, alles recht harmonisch und respektvoll.
Kurz vor Feierabend schickte ich ihm noch eine E-Mail, um einen schönen Abend zu wünschen. Seine Antwort, die für gewöhnlich länger und überschwänglich bis leicht pathetisch ausfiel, traf umgehend ein, diesmal drei kurze Zeilen, ohne Gruss, ohne Unterschrift:
„Danke.
Ich liebe dich.
Trotzdem.“

Ich traute zuerst meinen Augen nicht. Dann dachte ich bei mir: „Was ist denn jetzt wieder passiert?“ Allerdings nahm ich das Ganze nicht ernst – eine solche Situation war mir schliesslich nicht neu! – und reagierte nicht.
Es vergingen drei Tage ohne ein Lebenszeichen von ihm. Dann eine E-Mail, fast genau so kurz, aber eindeutig:
„Ich habe vergessen, dir alles Gute für deinen weiteren Lebensweg zu wünschen. Martin“
Das wars also. Was ich mich nicht getraut habe, um ihm nicht wehzutun, ist ihm ganz leicht gefallen!!! Er hat die Beziehung abgebrochen, kalt, kurz und bündig, ohne Begründung.
Welch grosse Lektion in meiner Lebensschule!

Manchmal muss ich eine Erfahrung einfach wieder einmal am eigenen Leib machen, um an meine eigenen Lehrsätze erinnert zu werden!

* Name aus Diskretionsgründen geändert.

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4 Gedanken zu “Ich will ihm nicht wehtun!

  1. Nun, vielleicht hätte er dich an jenem Abend, als du ihm noch „einen schönen Abend“ gewünscht hast, gerne noch getroffen und war deshalb entäuscht. Das würde seine kurze Antwort erklären. Anschliessend wollte er vielleicht, dass du dich bei ihm meldest, von dir aus, damit er sich „gebraucht“ und „gewollt“ fühlt. Womöglich ist ihm die letzte Nachricht nicht leicht gefallen und er hat trotzdem sehr gelitten… alles nur Vermutungen, da ich euch beide ja nicht kenne, aber möglich wäre es.

    Ich habe nämlich das Selbe erlebt. Ich spührte, wie die Zuneigung meiner Freundin immer kleiner und meine Zuneigung zu ihr täglich unangebrachter wurde. Also entschloss ich, „mich zurück zu nehmen“ und weniger zu geben… leider hat es nichts gebracht.

    In der Verliebtheits-Phase ist Alles neu und interessant. Aber nach ein paar Monaten denkt man sich zu kennen und die „Liebe“ verschwindet. Aber erst in diesem Augenblick fängt sie an.

    Liebe anzunehmen ist jeder im Stande, aber Liebe Geben muss man lernen. Liebe nicht zurück zu bekommen muss man verkraften können und darf dabei nicht die Selbstliebe aufgeben. Deshalb bin ich auf dieser wunderbaren Seite gelandet. Ich kämpfe momentan täglich gegen die Verzweiflung an.
    Habe vieles darüber gelesen und trotz der Theorie musste ich die schmerzhafte Erfahrung machen, die mir gezeigt hat, wie weit ich von meinem „Ideal“ entfernt bin…

    herzlichst

    tobi

  2. Lieber Tobi

    Es tut mir leid, dass du momentan durch eine schwere Zeit gehst (ich habe auch deinen anderen Kommentar gelesen). Ich kann dir nur zustimmen, dass Theorie und Praxis zwei verschiedene Dinge sind. So vieles wissen wir – aber es auch wirklich umzusetzen, ist alles andere einfach. Das erlebe ich selbst immer wieder.

    Doch wovon ich überzeugt bin: Es ist wichtig, unter die Vergangenheit mit dem Erfahrenen und Erlebten einen Strich zu ziehen, und zwar umgehend. Die Lektion daraus haben wir gelernt, die „Essenz der Erfahrung“ nehmen wir mit – aber alles andere sollten wir loslassen. Solange wir nämlich wie durch einen unsichtbaren Faden damit verbunden sind, sind wir gefesselt und es kann sich nichts Neues vor uns auftun. Oder um wieder einmal den wunderschönen Spruch von André Gide zu zitieren: „Es ist ein Gesetz des Lebens: Wenn sich eine Tür vor uns schliesst, öffnet sich eine andere. Die Tragik jedoch ist, dass man meist nach der geschlossenen Tür blickt und die geöffnete nicht beachtet.“
    Wenn wir diesen unsichtbaren Faden durchtrennen, ist es auch etwas einfacher, an uns selbst zu arbeiten und voran zu kommen.

    Es ist übrigens sehr schön, was du sagst: dass die wahre Liebe erst anfängt, wenn die Verliebtsheitsphase endet. Genau so ist es.

    Ich wünsche dir von Herzen alles Liebe,
    Karin

    P.S. Ich habe dir auch zu deinem anderen Kommentar noch etwas geschrieben, hier: http://www.selbstliebe.ch/?p=149#comment-416

  3. Liebe Karin
    Ich fand die Reaktion von Tobi sehr interessant.
    Vor allem da sie wieder einmal zeigt das oftmals Männer leider nicht deutlich ausdrücken was sie meinen und wollen.
    Leider sind wir Frauen aber keine Hellseher und können nicht immer wissen was unser Gegenüber von uns erwartet.
    Tun wir dann etwas anderes als sie wollen, müssen wir jedoch die Konsequenzen tragen, was ich ehrlich gesagt zimlich unfair finde.
    Genau solche Situationen machen uns unsicher.
    Wir fühlen uns dann ohnmächtig, enttäuscht, fast verzweifelt und fragen uns was wir falsch gemacht haben?!

  4. Liebe Sandra

    Was du sagst, betrifft glaube ich nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Es ist eine „allgemeine Krankheit“, dass die Menschen oft nicht sagen, was sie möchten, und erwarten, der Partner müsste es doch wissen und spüren, „wenn er mich doch liebt“!

    Klare Äusserungen, ehrlich und unmissverständlich, sind eine der wichtigen Grundlagen einer funktionierenden Beziehung.

    Einen schönen Abend!
    Karin

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