Ich muss nicht vollkommen sein!

Warum bin ich mir selbst gegenüber oft kritischer und unnachgiebiger als anderen gegenüber? Und sogar als andere mir gegenüber?

Von uns selbst erwarten wir oft eine Vollkommenheit, der wir nie und nimmer gerecht werden können; diese Erwartung wird nämlich aus einem Idealbild erzeugt, das wir uns von uns selbst machen. Es stammt aus den Erwartungen, die an uns als Kind und auch später gestellt wurden, und den Vorstellungen, wie wir sein sollten, die unsere Erzieher und übrigen Autoritätspersonen uns eingepflanzt haben. Deshalb sind wir oft sehr hart in unserer Eigenbewertung und verurteilen uns gnadenlos für vermeintliche Fehler, Versagen und Unzulänglichkeiten.
Es kommt dazu, dass wir dabei ständig befürchten, andere könnten merken, dass wir nicht so vollkommen sind, wie wir meinen sein zu müssen, und wir geben uns alle erdenkliche Mühe, damit sie uns nicht sehen, wie wir wirklich sind. Doch das kostet uns eine Menge Energie; zudem können wir vor uns selbst nichts vertuschen und wir fühlen uns umso schlechter, schuldiger und unwürdiger.

Haben wir doch den Mut, endlich ein realistisches Bild von uns selbst zu malen – und es als schön und liebenswert zu sehen! Wir sind nicht weniger wertvoll, weil wir nicht fehlerlos sind, im Gegenteil: Manche Mitmenschen fühlen sich besser in unserer Gegenwart, wenn wir nicht auf einem solch hohen Podest stehen.
Betrachten wir die Alltagssituationen zudem objektiv und nicht aufgrund unseres Ideal-Eigenbilds, erkennen wir sofort, dass wir von unseren Mitmenschen nicht so kritisch beurteilt werden, wie wir selbst es tun. Und denjenigen, die immer etwas auszusetzen haben, können wir es ohnehin nicht recht machen, wären wir auch wirklich vollkommen…

P.S. Es muss noch erwähnt werden, dass das Umgekehrte auch vorkommt: Dass wir, weil wir an uns selbst solch hohe Ansprüche stellen, es auch bei anderen tun, Ansprüche, die sie, wie wir ja auch, nie und nimmer erfüllen können. Daraus entstehen viele unnötige zwischenmenschliche Probleme und Konflikte.

Artikel teilen auf:
Facebooktwitter

4 Gedanken zu “Ich muss nicht vollkommen sein!

  1. …es juckt mich einfach in den Fingern, wenn ich manche deiner Texte lese. Wenn du das Gefühl haben solltest, ich spame deine Seite voll, dann sag mir das bitte. ich möchte mich nicht aufdrängen 🙂

    Ich kann dem, was du schreibst, auch diesem Fall nur zustimmen. Ich persönlich halte das Wissen, unperfekt (fehlerbehaftet) und gleichzeitig glücklich und zufrieden sein zu dürfen, als eine der lebenswichtigsten Erkenntnisse unserer Welt. Sie bejaen unser Leben und die Wertschätzung des Lebens ungemein.

    Ja, ich sehe die Wurzeln des Perfektionsstrebens auch in unserer Kindheit. Eltern wollten uns in vielerlei Hinsicht nicht nur zu guten, sondern zu perfekten Menschen, machen. Dabei war ihnen oft ganz egal, auf welche Weise sich das Streben dieser Perfektion vollzog: Hauptsache die äußerlichen Form stimmte. Wie es in unserem Inneren aussah, war oft zweitrangig. So wurde uns z. B. Angst davor gemacht, schlechte Noten zu schreiben, weil wir dann ja bei der Müllabfuhr landen könnten. Und was hieße das? Kein Ansehen, kein Geld, kein Luxus. Der Motor für gute Noten war also Versagensangst. Schrieben wir schlechte Noten, lernten wir uns dafür abzulehnen. Schrieben wir gute Noten, freuten wir uns vielleicht einen Moment darüber, befürchteten aber zugleich, dass wir diese gute Leistung nicht halten könnten. Somit strengten wir uns noch mehr an. Äußerlich gesehen scheint alles Perfekt: Die Ergebnisse sind schließlich vorhanden. Doch wie sieht es im Inneren aus? Ruhelosigkeit, Angespanntheit, Stress, Nervosität uvm.

    Ich denke, viele Menschen haben Angst davor, das Perfektionsstreben sein zu lassen, da sie befürchten, sich dann gehen zu lassen und nur noch schlechte Leistung zu erbringen. Vielfach wird der Gedanke vorherrschen: „Wenn ich mich nicht für eine schlechte Leistung verurteile und mich ablehne, ruhe ich mich auf meinen Lorbeeren aus und finde mich damit auch noch ab.“ Jedoch ist das Gegenteil der Fall ist: Nur wenn wir Fehler, Misserfolge etc. akzeptieren, haben wir die positive Kraft, es beim nächsten Mal besser zu machen. „Akzeptieren“ heißt nicht, es wunderbar und ganz toll zu finden, sondern nur, es als für den Moment gegeben hinzunehmen. So können wir Fehler machen, ohne an ihnen zu zerbrechen.

    Schönen Gruß,
    Chris

  2. Nein, lieber Chris, ich empfinde deine Kommentare überhaupt nicht als Spam, im Gegenteil! Schreib ruhig weiter 😛

    Deine Texte sind jeweils treffende Ergänzungen zu meinen Artikeln, und ich bin überzeugt, dass sie vielen LeserInnen dieser Website ebenso nützlich sind und ihnen gefallen wie meine.

    Herzlichst,
    Karin

  3. Hallo Karin!

    Danke schön für deine Worte! 🙂 Das freut mich und ermutigt mich darin, zu schreiben, wenn es mir „wieder in den Fingern juckt.“ 😉

    Sehr gut fand ich übrigens auch deine „P.S.“-Anmerkung. Wenn wir hohe, perfektionisitsche, Ansprüche an uns selber hägen, tuen wir dies bei anderen auch. Wenn ich jemanden begegnene, der alles und jeden mit kritischem und kleinlichem Blick begutachtet und scheinbar an allem etwas auszusetzen hat, hilft es mir oft, wenn ich mir vor Augen führe, wie es wohl in ihm drin aussehen mag. Wird er wirklich nachsichtig, verständnisvoll und liebevoll mit sich selber umgehen? Ich glaube kaum! Sein Umgang mit sich selbst wird eher sehr pingelig und kleinkariert sein. Ihm werden höchstwahrscheinlich mehr Dinge an ihm selber stören, als ihm gefallen. Wenn ich mir so etwas ins Bewußtsein rufe, heißt das nicht, dass ich sein Verhalten gutheiße („er kann ja schließlich nicht anders“), doch es hilft mir dabei, mehr Verständnis für diesen jemand aufzubringen. Manchmal lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen, ehe man jemanden einfach als „doof“ oder „bescheuert“ einstuft. Im übrigen halte ich diesen Blick „hinter die Kulissen“ für eine gute Übung auch für uns selbst: Wenn wir trainieren, gute Eigenschaften bei anderen zu bemerken und nachsichtiger mit ihnen umzugehen, wirkt sich das auch positiv auf uns aus. Nach einiger Zeit werden wir merken, dass wir mit uns auf gleiche Weise verkehren. Das Wort „man erntet, was man sät“ beinhaltet viel Wahrheit. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ – dafür werden nicht zuletzt unsere Einstellungen, die sich manifestiert haben, nach einer gewissen Zeit sorgen. Es besteht allzeit eine Wechselbeziehung zwischen uns und unserem Selbstbild und der Einstellung unserer Mitmenschen gegenüber.

    Viele Grüße,
    Chris

Schreibe einen Kommentar zu Chris Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert