Gesichtsverlust

Kürzlich habe ich wieder einmal eine Woche in einer Kultur verbracht, in der es enorm wichtig ist, sein Gesicht nicht zu verlieren, und das kann in solchen Ländern recht schnell passieren und aus für unser Verständnis banalen Gründen. Vor allem für Männer trifft dies zu.

Aber auch hier werde ich hie und da von Menschen gefragt, ob sie ihr Gesicht verlieren würden, wenn sie sich in einer bestimmten Situation so und so verhielten. „Was meinst du denn genau damit?“, frage ich jeweils. Daraufhin bekomme ich als Synonyme meistens die Begriffe Würde und Selbstachtung zu hören.

Interessant.
Von Nah- bis Fernost hat der Gesichtsverlust damit zu tun, wie man nach aussen dasteht.
Bei uns offenbar ebenfalls wie man vor sich selbst dasteht.
Zu letzterem passen Aussagen wie: Wenn ich das und das täte, würde ich die Achtung vor mir selbst verlieren. – Wenn ich mich so verhielte, empfände ich es als würdelos. – Wie kann man sich bloss derart unter seiner Würde benehmen?

Selbstachtung ist wichtig und hat eine Menge mit Selbstliebe zu tun. Mit anderen Worten bedeutet es, auf uns selbst zu hören, nichts zu tun, was wir nicht wirklich wollen, stets unserer Inneren Stimme zu folgen.

Wie steht es aber damit, wenn wir unsere Würde, also das Gesicht wahren wollen, nach aussen? (Und ich spreche jetzt ausdrücklich nur von unserer Kultur.) Geht es dabei nicht vielmehr darum, unsere Maske aufrechtzuerhalten? Keine Schwäche zu zeigen, keine Fehler zugeben zu müssen, tadel- und makellos dazustehen?
Das ist in der Tat kein Anzeichen für Selbstliebe, sondern für mangelnde Selbstliebe! Es steckt meistens viel Ego darin, wenn wir uns bemühen, unser Gesicht nicht zu verlieren.

Für unsere Selbstachtung hat es keine Bedeutung, wie andere uns beurteilen. Nur für uns selbst muss es stimmen. Und niemand kann uns unsere Selbstachtung nehmen, egal was er von uns denkt. Im Gegenteil: Unsere Selbstachtung verlieren wir gerade dann, wenn wir uns bemühen, von anderen positiv beurteilt, akzeptiert und geschätzt zu werden. Dann stehen wir nämlich nicht zu uns selbst, wir nehmen uns nicht an, wie wir nun einmal sind.

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