Die Gnade des Vergessens

Wenn wir einen „Schicksalsschlag“, insbesondere den Verlust eines geliebten Menschen, erleiden und in unserem Schmerz ganz gefangen sind, können wir uns manchmal nicht vorstellen, dass es je wieder anders werden kann, wir je darüber hinwegkommen, das Leiden je abnimmt…

Gerade habe ich wieder einmal erlebt, dass die Zeit tatsächlich die Wunden heilt – durch das Vergessen. Diese Erfahrung möchte ich hier mit euch teilen, um euch vielleicht ein bisschen dieses Vertrauens zu schenken, dass jeder Schmerz, jede Traurigkeit sich verflüchtigt – sofern wir es zulassen und uns nicht daran haften.

Ich habe heute mit einer lieben Freundin telefoniert, die vor kurzem einen nahen Familienangehörigen verloren hat, und wir kamen dabei darauf zu sprechen, dass meine grosse Liebe vor einigen Jahren ebenfalls gestorben ist. Sie fragte mich, woran. Ich zögerte einen Sekundenbruchteil, als wüsste ich es nicht oder wäre mir nicht sicher, dann antwortete ich: „Leberkrebs mit Knochenmetastasen.“
Erst einige Stunden später – beim Geschirrspülen! – ging mir plötzlich durch den Kopf: Nein, er hatte doch gar nicht Leberkrebs! In der Leber und in den Knochen waren Metastasen und an den Lebermetastasen ist er schliesslich gestorben. Doch welchen Krebs hatte er denn ursprünglich?

Meine grosse Liebe ist noch keine 10 Jahre tot – und ich weiss schon nicht mehr, welche Krankheit er hatte? Ja, so schnell und so gründlich vergisst man… vielleicht wusste ich es schon vor 5 Jahren nicht mehr… vielleicht schon ein Jahr nach seinem Tod…
Ich musste zuerst alle Körperorgane in Gedanken durchgehen, bis es mir wieder eingefallen ist.

Auch meine Freundin und ihre Familie – und alle, die hier lesen und Leid erfahren haben – werden vergessen. Zumindest das Leid – und diese Details, die den Schmerz immer wieder von Neuem hervorbringen. Was bleibt, sind die schönen Erinnerungen; die weniger schönen werden zu neutralen, unwichtigen, weit entfernten…

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